
»Bei klingender Künstlerkraft ein Stück Pöbel in sich tragen«
Beim Lesen von Kurt Hillers erstem Jahresband der kurzlebigen Zeitschrift Das Ziel mit dem Untertitel Aufrufe zu tätigem Geist, den dieser 1915 mitten im Krieg in München herausgab, fand ich einen Artikel des ebenso sprachgewaltigen wie streitlustigen Schriftstellers und legendären Theaterkritikers Alfred Kerr. Mit Adolf Hitler hatte er ganz bestimmt nur eins gemeinsam hatte: beide liebten die Bremse unter der Nase. Als Hitler noch ein unbekannter Gefreiter war, brillierte Kerr bereits als eine Institution des Kulturlebens. Er war der Reich-Ranicki der Wilhelminischen Plüschkultur und der Weimarar Republik. Sein Urteil hatte Gewicht, jahrzehntelang.
Mit dem Briten Philip Kerr, der erst 6 Jahre nach Alfreds Tod das Licht der Welt erblickte und irgendwann mit dem Schreiben von historischen Krimis der deutschen NS- und Nachkriegszeit berühmt wurde, war er nicht verwandt. Wohl aber Vater der Judith Kerr, der Hitler das rosa Kaninchen stahl. Und — peinlich berührter „Neffe” der »schlesischen Nachtigall« Friederike Kempner, deretwegen er schamhaft seinen Geburtsnamen Kempner abgelegt und sich in seinen Veröffentlichungen lieber Kerr nannte. Nein, wie diese Dichterin, deren lebenslanges ernsthaftes sozialpolitisches Engagement hinter ihren selten gelungenen Versen verblasste, wollte der Schriftsteller Alfred Kempner nicht heißen. Bei Zeilen wie „Arglos und harmlos, Glücklich ich bin, Hör‘ ich das Böse, Denk‘ ich nicht hin,“ oder Versen wie den folgenden bekam er Schnappatmung:
„Amerika, Du Land der Träume,
Du Wunderwelt, so lang und breit,
Wie schön sind Deine Kokosbäume
Und Deine rege Einsamkeit!“

Und deshalb fasste der 1867 geborene Sohn eines jüdischen Weinhändlers aus Breslau schon als junger Student den Entschluss, „dass ich für die Schriftstellerlaufbahn meinen Vatersnamen in Kerr zusammendrängen werde. Die gesetzliche Erlaubnis gab mir 1911 der preußische Minister von Moltke. Der Name Kempner war für einen Schreibenden durch die Dichterin Friederike bloßgestellt. Sie war meine Tante nicht! Sie waaar es nichtt!” Diese emphatische Richtigstellung hatte ihre Gründe, denn lange Zeit wurde kolportiert, er würde die Gedichtbände „seiner Tante” teils in ganzen Auflagen aufkaufen, nur damit bloß niemand diese Perlen der unfreiwilligen Komik zu lesen bekam. Nichts davon stimmte, denn erfunden hatte diese angebliche Verwandtschaft bloß sein Intimfeind Bertolt Brecht, um dem ihm verhassten „nach Trüffeln schnüffelnden Five-o-clock-tea-Plauderer“ eins auszuwischen. Der einzige, der tatsächlich mit Friederike Kempner (entfernt) verwandt war, war der von den Nazis 1942 im KZ Sobibor ermordete expressionistische Dichter Hans Davidsohn, uns besser bekannt als Jakob van Hoddis. Dessen Mutter Doris war eine geborene Kempner und die Nichte der Dichterin.
„Mein Amt auf Erden war, gegen die Dramatiker zu kämpfen“, ironisierte Kerr seine Kritiken und Glossen. Dabei war er es, der Henrik Ibsen begeistert feierte, George Bernhard Shaw in Deutschland bekannt machte und Schriftsteller wie Robert Musil förderte. Er war es auch, der den Aufstieg Gerhard Hauptmanns zum Dichter des Naturalismus publizistisch begleitete. Als Hauptmann sich allerdings nach 1933 den Nazis anbiederte, traf ihn Kerrs Fluch aus dem Exil für alle Zeit: „Sein Andenken soll verscharrt sein unter Disteln; sein Bild begraben im Staub.”
Für Thomas Mann indes hatte der streitbare Kerr nichts übrig und es sich nicht nur mit dem „Deutschenhasser Karlchen Kraus”, sondern auch mit Bert Brecht gründlich verscherzt, dessen Theaterstücke er verriss und dem er etwa nachwies, dass er sich beim Abfassen der Dreigroschenoper ungeniert bei einer deutschen Nachdichtung Francois Villons bedient hatte. Mit dem Realismus des marxistischen Regisseurs Erwin Piscator konnte der großbürgerliche Kerr sich durchaus anfreunden, das epische Theater Brechts hingegen blieb ihm fremd.
Wie dem auch sei, einen Nachruf in der Berliner Zeitung widmete Kerr trotzdem der verblichenen Nicht-Verwandten:
„Meine Tante Friederike
Kempner ruht im Erdenschoß.
Zweifelhaft war die Musike
Ihrer Verse zweifellos.
Gute Tante, schlummre selig,
Gute Tante, schlummre brav.
Leider Gottes scheuchen schmählich
Meine Gegner Dir den Schlaf.
Auf dem Friedhof und Gebeinfeld
Weckt dich manchmal Yyyya-Schrein –
Wenn dem Esel sonst nichts einfällt,
Fällt ihm meine Tante ein.
(Trag’s! Ob auch der unverwandte
Schmerz an deiner Seele frißt:
Daß du, meine tote Tante,
Gar nicht meine Tante bist.)”
Da die vierte Strophe allerdings meistens unterschlagen wurde, hielt sich die Fama von der angeblichen Tante hartnäckig bis in die 1980er Jahre.

Nur wenige Jahre nach der Jahrhundertwende positionierte sich Kerr klarsichtig gegen den grassierenden Antisemitismus. Er war, wie die Herausgeberin seiner Werke, die britische Literaturwissenschaftlerin Deborah Vietor-Englaender schrieb, „kein frommer Jude, aber er war ein sehr selbstbewusster Jude, und er rastete buchstäblich aus, wenn sich ein Jude taufen ließ”. 1912 wütete er gegen den jüdisch-stämmigen Industriellen und Politiker Walther Rathenau, weil dieser Freund Hauptmanns und Maximilian Hardens auch seine Kontakte zur deutsch-völkischen Szene pflegte, insbesondere durch seine Freundschaft mit Wilhelm Schwaner, was ihm die rechten Freikorps übel nahmen. In einem ihrer Lieder hieß es: „Knallt ab den Walter Rathenau, die gottverdammte Judensau!” Rathenau fiel 10 Jahre später, wenige Monate nach seiner Ernennung zum Reichsaußenminister, und nur ein paar Wochen nach seiner Unterzeichnung des Rapallo-Vertrags mit der Sowjetunion, einem Fememord zum Opfer.
Kerr setzte sich schon vor der »Machtergreifung« mit großem Mut gegen die Nationalsozialisten ein und nutzte dazu auch das neue Medium Radio. Hier wurde der typische Kerr-Sound seiner Kritiken noch ätzender, seine Verdikte jedoch blieben klarsichtig: „Hitler:“, schrieb er, „Das ist der Mob, der Nietzsche gelesen hat.“ Nicht von ungefähr rief Goebbels schon 1929 zur Ermordung Kerrs auf. Als prominenter Vertreter des jüdischen Bürgertums, der sich öffentlich gegen die NSDAP positioniert hatte, gehörte Kerr denn auch zu denen, deren Schriften am 10. März 1933 öffentlich verbrannt wurde:
„Gegen dünkelhafte Verhunzung der deutschen Sprache, Für Pflege des kostbarsten Gutes unseres Volkes! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Alfred Kerr.“
Da er mit seiner Verhaftung gerechnet hatte, hielt sich der 66jährige Kerr zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr in Deutschland auf, sondern war trotz hohen Fiebers bei Nacht und Nebel nach Prag geflohen. Seine Tochter Judith hat berichtet, wie die Familie in aller Heimlichkeit nachkam und dabei vieles zurücklassen musste, um nicht aufzufallen. Auch ihr Stofftier, das rosa Kaninchen. Man reiste bereits am 15. Februar 1933 in die Schweiz, und von da aus zunächst weiter nach Frankreich.
Von 1935 bis Kriegsende lebte die Familie Kerr im britischen Exil, ohne dass es Alfred gelang, sich mit der englischen Sprache anzufreunden. Auch wenn er dem Londoner P.E.N.-Club beitrat und in einer Rede dort erklärte, für ihn sei Hitler einfach nur ein ‚verrückter Hund‘, der erschossen werden müsste. Die gelegentliche Arbeit für den Auslandsdienst der BBC, für deutschsprachige Exilzeitschriften oder französische Zeitungen brachten nur spärliche Einkünfte, so dass die Kerrs trotz der Zuwendungen durch Freunde und Bekannte kaum über die Runden kamen. Vorbei war es mit dem gewohnten großbürgerlichen Lebensstil, den sie in Berlin gepflegt hatten; die Zeiten hatten sich gründlich geändert. Sie hausten 15 Jahre lang in billigen Hotelzimmern, und sahen ihre Kinder, die Internatsstipendien bekommen hatten, oft monatelang nicht.
Nach dem Krieg arbeitete Kerr zunächst für Die Welt und Die Neue Zeitung und übersiedelte, obwohl bereits seit 1947 britischer Staatsbürger, nach Deutschland. Doch kaum dort angekommen, erlitt er beim Besuch einer Theateraufführung in Hamburg einen Schlaganfall, von dessen Folgen er sich nicht mehr erholte. Er hatte das Exil in bitterer Armut ertragen, war oft verzweifelt, doch er hatte nie aufgegeben – zu kämpfen und zu hoffen. Erst als ihm die Sprache zu entgleiten drohte und ihm klar wurde, er würde nie wieder publizistisch arbeiten können, sah er keine Chance mehr. Am 12. Oktober 1948 nahm er sich mit Schlaftabletten das Leben. Sein geliebtes Berlin hat er nie wiedergesehen.
In besagtem Artikel aus dem Jahr 1915 jedenfalls zitierte sich Kerr selbst aus einem Brief, den er 1911 an die neuen Herausgeber der von ihm ein Jahr zuvor gegründeten literarischen Zeitschrift PAN geschrieben hatte (abgedruckt in: PAN, Jg 1910/1911, Heft 11). Das folgende Zitat daraus würde ihm die woke Community heute sicher nie verzeihen:
„Ich sehne mich nach einem Blatt, welches die Schmierigkeit gewisser Zustände klar unterstreicht . .. Ich sehne mich nach einem Blatt, welches im Falle von vernunftwidrigen Äusserungen hoher Staatsstellen; von Äusserungen, so dem Stand unseres Wissens plump zuwiderlaufen: welches in diesem Fall eine Klage fordert wegen groben Unfugs, oder ärztliche Zwangsaufsicht …
Ich sehne mich auch nach einem Blatt, welches die Erbaulichkeit des gegenwärtigen Bürgertums zerpeitscht. Erbärmlichkeit, die jede Fünf gerade sein lässt, solange verdient wird … Erbärmlichkeit eines Radikalismus, der nach einer Achtel-Generation sämtliches Glück in einer feudalen Familienverbindung sieht.
Ich sehne mich nach einem Blatt, das in sonders einer Art von guten Gesellen auf den Trab durch Tritte hilft: nämlich allen diesen freiheitlichen und vernünftigen Menschen, die sagen: »Das tut man doch nicht«, »Dazu ist man zu anständig«, »Man kann doch eigentlich kaum«. Das sind die Schlimmsten. Alle diese mit wirklicher Gesittung durchsetzten Leute von innerem Wert: denen aber die Ursprünglichkeit abhanden gekommen ist; die Gabe des Rüdigseins, die Macht des Mittuns; die Lust des Loslegens; die Entschlossenheit zur Schlacht … statt dessen haben sie die Furcht, sich blosszustellen; den horror des Heraustretens; das Lächeln des nachgebenden Klügeren. Hauen Sie diese Gattung, bis sie nicht mehr sitzen kann.
Helfen Sie: die gebildete Tatlosigkeit der anständigen Menschen als etwas Unanständiges ihnen einzubläuen. Vielleicht kommen sie dann über Ironie, Kopfschütteln und hochstehend fortschrittliche Feigheit hinweg. . .
Stellen Sie denen als Ideal solche vor: die bei letzter Kultur, bei klingender Künstlerkraft ein Stück Pöbel in sich tragen; ein Stück Waldtier bei aller verfeindeten Stadthaftigkeit, sprungmächtig. Die brauchen wir.
In summa: man soll Ihnen … nicht Glück, sondern Stärke wünschen. Erfolg auf der Grundlage des Sträubens. Und die beste Beziehung zu den Lesern: indem Sie nicht ihre literarische Kenntnis fördern, sondern ihren Mut steigern.
Fröhliche Grüsse
ALFRED KERR”
Am 13. Dezember 1927 schrieb Kurt Tucholsky unter seinem Pseudonym Peter Panter in der Weltbühne: „Läßt Kerr die Schreibmaschine aufklappen, so reicht das weit über alles Theater hinaus, über den windigen Zank der Leute vom Bau, diese Talmiaufregungen, die schon erkaltet sind, wenn sie noch heiß serviert werden; weit über Nervenkrisen, Telefonattacken, wild gewordene Telegrammformulare … Kunst ist schon kein Selbstzweck – wie sollte Theaterkritik einer sein -!“ Kerr war ein Mensch, der für die Literatur und in der Literatur lebte, und den der Herausgeber der Weltbühne, Siegfried Jakobsohn, 1911 so beschrieb: „Er verrenkte, wie er selbst einmal von einem Dramatiker geschrieben hat, seine Halswirbel, um affektierter sein zu können. Er gestikulierte mit Händen und Füßen. Er verstellte seine Stimme und schrie sich heiser. Er schnitt Grimassen und schlug Capriolen und erzielte mit alledem, was er erzielen wollte: er fiel auf.”
Geniale Querköpfe wie der Berliner Alfred Kerr oder auch sein von ihm so geschmähtes Wiener alter ego Karl Kraus gehören einer vergangenen Epoche an. Die literarische Welt heute ist ärmer ohne sie.
