Problemlöser zum Schlucken
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Kinder-Koks? – Medikamentengabe bei ADHS

„Wir sind das einzige Land der Welt, in dem Kinder eine solch riesige Menge von Stimulantien verschrieben bekommen, die praktisch die gleichen Eigenschaften haben wie Kokain“, meint Gene Haislip, Abteilungsleiter der amerikanischen Gesundheitsbehörde DEA. Längst ist aber auch in Deutschland ADHS eine Wachstumsbranche für die Pharmaindustrie.
Zappelphilipp
Der Zappelphilipp

ADHS wurde in den USA 1991 als Behinderung anerkannt. Seitdem stiegen Aufmerksamkeitsdefizit- bzw. Hyperaktivitäts- diagnosen epidemieartig an. Allein in den USA wuchs die Zahl der behandelten Fälle von 150.000 im Jahre 1970 auf über 10 Millionen im Jahre 2000. In einigen US-Bundesstaaten erhielten Eltern einen monatlichen Zuschuss von 450 $ für jedes durch ADS „behinderte“ Kind. Die Zahl der Kinder mit dieser „Behinderung“ erhöhte sich daraufhin in diesen Regionen von 5% auf 25%. Die Produktion von Ritalin stieg in dieser Zeit um 700%. 1998 wurden in den USA 4 Millionen Kinder mit Ritalin (bzw. Adderall) behandelt – nur zwei Jahre später waren es schon doppelt soviele. US-Apotheken werben zu Schulbeginn mit „Ritalin im Sonderangebot“ und Kindergärten und Schulen verteilen die Medikamente mancherorts frei.

Und in Deutschland?

Seit Jahren gibt es auch bei uns den Trend, „normale“, nur etwas lebhafte Kinder mit der ADS-Diagnose zu belegen und Ritalin & Co. zu verschreiben, gemäß der zirkulären Diagnose: wenn Ritalin wirkt, liegt ADS vor. Viele Ärzte und Kinderpsychiater sind leider immer noch der Ansicht, dass Ritalin nur kurze Zeit wirkt. Welcher Betroffene hat nicht schon einmal den Rat bekommen, es einmal „auszuprobieren“? Dafür werden dann auch die Nebenwirkungen in Kauf genommen: Rückgang des Appetits, Nervosität und Schlafstörungen, bei Einnahme ohne Flüssigkeit, gelegentlich Bauchschmerzen oder Erbrechen, seltener Fieber, Kopfschmerzen, Herz-rhythmusstörungen und Trockenheit der Schleimhäute. In nur 4 Jahren hatte sich in Deutschland die verschriebene Menge vervierzigfacht (1995: 0,7 Millionen Tabletten, 1999: 31 Millionen Tabletten). Derzeit haben in Deutschland etwa 600.000 Kinder die Diagnose ADS. Nach Angaben der Techniker Krankenkasse bekamen im Jahr 2009 27 von 1000 der dort versicherten 6- bis 18jährigen das Arzneimittel Ritalin. Im Vergleich zu 2006 – damals waren es 20 von 1000 – ist dies eine Steigerung von 32 Prozent. Zugleich stieg nach den TK-Daten die durchschnittlich verschriebene Menge sog. Tagesdosierungen Methylphenidat pro jungem Patienten (2006: 195, 2009: 213). Zahlen des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte zeigten, dass die an Apotheken gelieferte Menge des Wirkstoffs von 2006 bis 2009 um 42 Prozent gestiegen sei – auf mehr als 1,7 Tonnen. 1993 waren es gerade einmal 34 kg.

Problemlöser zum Schlucken
Problemlöser zum Schlucken

Doch die Langzeitfolgen von Ritalin und Co. sind noch nicht erforscht und die Nebenwirkungen sehr umstritten. Die Behauptung, Ritalin sei lediglich ein harmloses Stimulans, wurde bisher von vielen Ärzten, der Pharmalobby und so manchem ADS-Verein verbreitet und von vielen Millionen hilfesuchender Eltern gern angenommen. Man ließ sich allzu gern dadurch täuschen, dass Ritalin geringere Nebenwirkungen und kaum Suchtpotential zu entwickeln schien. Außerdem trugen die „hilfreichen“ Wirkungen der Substanz auf die Verhaltensprobleme sogenannter ADS-Kinder das ihrige zur Verharmlosung der Droge bei. Dabei war bekannt, dass Methylphenidat, ein Amphetaminabkömmling wie auch Ecstasy oder Pervitin, bei entsprechender Dosierung und Einnahme süchtig machen kann und schädliche neurologische Wirkungen hat. Kein Wunder, denn Methylphenidat wirkt grundsätzlich wie Kokain und ist auch pharmakologisch fast damit identisch. *Kokain gilt allgemein als gefährlich und suchterzeugend, Methylphenidat dagegen nur als Medikament mit einer beruhigenden Wirkung auf unruhige Kinder, das angeblich nicht süchtig macht. Wie ist das zu erklären?

Die normalerweise orale Einnahme verzögert die Wirkstoffaufnahme. Sie verhindert durch ihren Umweg über den Verdauungstrakt den „Kick“ einer Droge. Die Kinder merken meist nicht viel von der schleichenden Medikamentenwirkung. Der Glaube, Ritalin sei ein harmloses Stimulans, ist nach Ansicht des amerikanischen Wissenschaftsjournalisten Brian Vastag dennoch „vollkommen unzutreffend“. Methylphenidat greife wie Kokain in den Dopaminstoffwechsel ein. Bei Teenagern in den USA, berichtet der Hirnforscher Gerald Hüther, sind die Tabletten längst „zu einer beliebten Modedroge geworden, die pulverisiert geschnupft leicht euphorisierend wirkt und, in Wasser aufgelöst und intravenös injiziert, mit der Wirkung von Kokain vergleichbar ist“. In der Drogenszene ist die Substanz auch unter „Vitamin R“, „Ritas“ oder „MPH“ bekannt.

„Wir waren höllisch überrascht!„, so eine US-Forschungsgruppe über ihren Befund, dass Methylphenidat nicht nur genauso, sondern sogar stärker wirkt als Kokain. „Das hatten wir nicht erwartet!“, meinte die amerikanische Suchtexpertin Nora D. Volkow, Direktorin des Nationalen Instituts für Drogenmissbrauch in den USA. Hohe Dosen von Ritalin können zumindest im im Belohnungszentrum des Gehirns von Mäusen Veränderungen verursachen, die jenen bei Kokainabhängigen ähneln. Frau Volkow warnt deshalb davor, Kinder und Jugendliche mit ADS mit Ritalin oder ähnlichen Präparaten zu behandeln. Nach Ende der Wirkungsdauer können sich die behandelten Symptome verstärkt zeigen (Rebound-Effekt). Besonders das plötzliche Absetzen von Methylphenidat nach längerem Gebrauch kann zu einer verstärkten Hyperaktivität, Gereiztheit oder depressiven Verstimmung führen.

Kreativitätshemmer auf Rezept?

Seriöse Studien über Langzeitwirkungen von Ritalin liegen auch nach über 60 (!) Jahren Anwendung nicht vor. Eine Forschungsgruppe um Prof. Joan Baizer von der University at Buffalo berichtete 2001 auf der Jahrestagung der Society for Neuroscience, dass das Medikament langfristige Veränderungen im Gehirn hervorrufen kann – im Bewegungs-apparat und einer Reihe kognitiver Prozesse. Tierversuche zeigen, dass das Hirnwachstum eines jungen Organismus durch Ritalin dauerhaft beeinflusst wird. Auch scheint das kreative Denken durch Langzeiteinnahme eingeschränkt zu werden. Außerdem fand man Hinweise darauf, dass Methylphenidat bestimmte Prozesse im Gehirns dauerhaft verändert, sodass die Annahme einer über die Dauer der Anwendung hinaus bestehende Wirkung immer wahrscheinlicher wird. Da überhaupt nicht klar ist, ob es sich hierbei um positive oder negative Effekte handelt, riet Prof. Baizer zu einem vorsichtigeren Umgang mit Ritalin.

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