Der zarte Klang der Stille
Zu einer Elija-Perikope in 1Kön 19,1-18
Beim Seder-Mahl an Pessach ist es Tradition, einen Stuhl und ein Gedeck für den Propheten Elija bereit zu halten, getrau der Prophezeiung Maleachis: „Bevor aber der Tag des HERRN kommt, / der große und furchtbare Tag, / seht, da sende ich zu euch den Propheten Elija.“ (Maleachi 3,23) Denn Elijas Kommen kündigt nach jüdischem Glauben den Messias an.
Der mythische Prophet Elija nimmt in der jüdischen Tradition eine Sonderstellung ein. Das liegt vielleicht am dunklen Geheimnis, das seine Geburt, seine Kindheit und seine Familie umgibt, womöglich aber auch daran, dass er so plötzlich und unvermittelt in der Heiligen Schrift auftaucht. Ein Wanderprediger voller intensiver Begeisterung für seine Missionsarbeit. Allein die Gefahren, denen er ausgesetzt war, die wundersamen Ereignisse, in denen er auftrat, sein unerschrockener Mut und sein Feuereifer würden bereits ausreichen, um ihn mit einem Heiligenschein der Romantik zu versehen. Er soll einmal ein totes Kind zum Leben erweckt haben und wurde auf seinem Missionsweg von Raben ernährt, heißt es. Doch damit nicht genug: Zu seinem irdischen Werdegang, der schon reichlich unwahrscheinlich war, gesellen sich die Umstände seines Verschwindens von der Erde. Nach 2 Kön 2,1–18 wird Elija durch einen feurigen Wagen mit feurigen Rossen von seinem Nachfolger, dem Propheten Elischa getrennt und in einem Sturmwind noch zu Lebzeiten in den Himmel entrückt, ohne dass sein Tod oder irgendetwas über die Trauer seines seines Nachfolgers Elischa erwähnt wird.
So ist es nur verständlich, dass er als eine der pittoreskesten Persönlichkeiten der Bibel angesehen wird – genau die Figur, die in späteren Jahrhunderten von Legenden und Gleichnissen aufgegriffen wurde und im Volksglauben über Jahrhunderte hinweg weiterlebt. Eine dieser Legenden, die sich um Elija ranken, wird im ersten Buch Könige in der Bibel erzählt, und zwar im 19. Kapitel (Vers 1-18).[1]
Doch zunächst zur Vorgeschichte: In 1Kön 17 lesen wir, dass der Prophet eine lange Dürre für das Land angekündigt hat. Die düstere Prophezeiung trifft auch ein. Darauf lässt Ahab, der König des Nordreiches Israel, den Elija suchen. Beide bezichtigen sich gegenseitig, für die Dürre verantwortlich zu sein, und so kommt es – so will es die Legende – zum Showdown auf dem Berg Karmel. Eine Machtprobe: 450 Propheten des Gottes Baal treten gegen den einen Propheten des wahren Gottes, Elija an, der sich dramatisch zum letzten seiner Art stilisiert.
Beide Parteien bieten ihrem Gott einen Stier als Brandopfer dar. Elia lässt das Holz unter seinem Altar sogar noch eimerweise mit Wasser nass spritzen. Und während die Baals-Priester stundenlang vergeblich beten, reicht ein einziges Gebet zu JHWH aus, und ein Feuerstrahl fährt vom Himmel und verzehrt das Brandopfer. Was den König in den Augen des anwesenden Volkes natürlich demütigt, da seine Propheten sich als Scharlatane erwiesen hatten. Auf Weisung Elijas werden alle Baalspropheten vom Volk getötet, worauf der Regen wieder einsetzt. Die Dürre ist vorbei. (1Kön 18, 37-40). Kein Wunder also, dass ihm Ahab anschließend nach dem Leben trachtet, noch dazu angespornt von seiner Frau, der Phönizierin Isebel.
Elija flieht vor Ahab und Isebel, so weit er nur kann. Beerscheba, die erste Station seiner Flucht, lag an der Südgrenze des Südreiches Juda, d.h. an der Grenze der Besiedelung, denn hinter Beerscheba folgte nur noch Wüste. Die Ortsbezeichnung ist nicht zufällig gewählt, sondern soll bedeuten, dass sich Elija damit außerhalb von Ahabs und Isebels Reichweite befindet. Hier hätte er sich also bereits sicher fühlen können. Tut er aber nicht, sondern flieht weiter, einen ganzen Tag lang in die Wüste hinein, also an einen ausgesprochenen unwirtlichen, lebensfeindlichen Ort. Er „ließ sich unter einem einzelnen Ginsterstrauch nieder. Da wünschte er sich, sterben zu können, und sagte: Es ist genug.“ (1Kön 19,3) Er bittet also Gott, ihn zu töten und ersucht damit um Vollendung dessen, wovor er doch gerade geflohen ist. Das ist schon starker Tobak, denn eine solche Bitte, ein direkt an Gott gerichteter Todeswunsch, ist geradezu ungeheuerlich. Elija begründet das etwas rätselhaft damit, dass er nicht besser sei als seine Väter. Jedenfalls hadert er tief erschöpft und lebensmüde mit seiner Rolle als Prophet. Eine Antwort oder Reaktion scheint er gar nicht mehr zu erwarten, er legt sich hin und schläft ein. (1Kön 19,5)
Doch Gott, so die Erzählung, will es ihm so leicht nicht machen. Der rote Faden dieser Geschichte ist die wachsende Zuwendung Gottes. Nicht nur einmal, sondern zweimal schickt er ihm einen Boten (Engel), der ihn mit Speis und Trank versorgte. Elija soll Kräfte sammeln, denn er hat noch etwas vor sich. Beim ersten Mal findet er nach dem Aufwachen nur frisches Brot und Wasser neben sich, isst und schläft weiter. Bei seinem zweiten Besuch wird der himmlische Bote deshalb energischer:
„Steh auf und iss! Denn der Weg ist zu weit für dich.“ (1Kön, 19,7).
So wird er an den Ursprungsort des Glaubens zurückgehen, den Berg Horeb (Sinai)[2], den Ort der Gottesbegegnung des Moses im brennenden Dornbusch (Ex 3,1-5), des Empfangs der Torah und des Bundes Gottes mit Israel. Und das natürlich auch nicht mal so eben, sondern Elija gelangt dorthin erst nach einer Wanderung von 40 Tagen und Nächten, auch wieder so eine symbolische Angabe. Vierzig Tage blieb Moses auf dem Berg, bis er mit den Gesetzestafeln zurückkehrte (Ex 24,18; 34,28). Und es waren vierzig Jahre, in denen sich die Israeliten nur vom morgendlichen Manna (Ex 16,35) ernährten und durch die Wüste irrten auf ihrem Weg ins Gelobte Land (Num 14,33). Auch Elija muss erst einen langen Weg gehen, bevor er den Gottesberg erreichen kann.
Zur Läuterung reicht das aber anscheinend immer noch nicht, denn kaum dort angekommen, sucht er sich einen Schlafplatz in einer Höhle – und jammert weiter. Als er Gottes am Morgen Ansprache vernimmt, antwortet er:
„Ich habe geeifert für den HERRN, den Gott Zebaoth; denn die Israeliten haben deinen Bund verlassen und deine Altäre zerbrochen und deine Propheten mit dem Schwert getötet und ich bin allein übrig geblieben, und sie trachten danach, dass sie mir mein Leben nehmen.“ (1Kön 19,10)
Weil das Volk Israel von der Verehrung Jahwes abgewichen sei, habe sich somit alles prophetische Engagement als vergeblich erwiesen.
Im Grunde wiederholt sich hier unter anderen Vorzeichen der Auszug aus Ägypten. Die Israeliten hatten erlebt, wie Gott seine Macht so eindrucksvoll erwies, dass der Pharao sie ziehen lassen musste (Ex 12,31), sie hatten die Feuer- und Wolkensäule vor Augen (Ex 13,21f) und was machten sie? Sie jammerten, kaum dass sie Ägypten verlassen hatten, wegen der sie verfolgenden Ägypter:
„Gab es denn keine Gräber in Ägypten, dass du uns zum Sterben in die Wüste holst? Was hast du uns da angetan, uns aus Ägypten herauszuführen?“ (Ex 14,11).
Doch als Elijah die Höhle verlässt, ist etwas Eigentümliches geschehen:
„Und siehe, der HERR ging vorüber. Und ein großer, starker Wind, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, kam vor dem HERRN her; der HERR aber war nicht im Winde. Nach dem Wind aber kam ein Erdbeben; aber der HERR war nicht im Erdbeben. 12 Und nach dem Erdbeben kam ein Feuer; aber der HERR war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen.“ (1Kön 19,11-12)
Wind/Sturm, Erdbeben, Feuer – diese drei Manifestationen in der Natur sind typische Theophanie-Elemente, die das Erscheinen Gottes begleiten. Ähnliche Theophanien finden wir auch an anderen Stellen im Altern und Neuen Testament, und nicht nur dort. Auch der konkurrierende Baal, ein Wetter- und Fruchtbarkeitsgott, zeigte sich in Wind, Wolken und Regen. Doch – und das ist das eigentlich Neue hier: all dies soll nicht mehr gelten.
Er zieht vorüber, aber nicht mehr als Gott, der sich wie andere Götter in der Natur manifestiert. Jeder der angekündigten Naturerscheinungen folgt eine stereotype Negation: „der HERR aber war nicht im …“ Er war nicht im Wind, nicht im Erdbeben und nicht im Feuer, doch dann folgt noch eine vierte Erfahrung Elijas, und die wird nicht verneint: „ein leises, sanftes Säuseln“. (1Kön 19,12) Das gewohnte Bild der machtvollen Gottesoffenbarung wird dreifach verneint, denn die Gotteserfahrung, die Elijah nun zuteil wird, ist viel subtilerer Natur. Und dass eine gemeint ist, zeigt Elijas Reaktion: Er verhüllt sein Gesicht mit seinem Umhang, damit er Gott nicht ansichtig wird. (1Kön 19,13)
Es gibt zahlreiche Versuche, diese einzigartige Stelle, die sich nur in 1Kön 19,12 findet, zu übersetzen. In der Elberfelder Bibel heißt es: „der Ton eines leisen Wehens“, in der Lutherbibel (2017) „ein stilles, sanftes Sausen“, ähnlich die Schlachter-Bibel: „Stimme eines sanften Säuselns“. Bei Buber/Rosenzweig wird die Stelle etwas verschwurbelt mit „eine Stimme verschwebenden Schweigens“ übersetzt.
Im Hebräischen ist es eine geradezu paradoxe Aussage: קול דממה דקה.
קול bedeutet »Laut«, »Klang«, »Schall«, »Stimme«, bezeichnet also etwas akustisch Wahrnehmbares. Im Gegensatz dazu steht דממה »Ruhe«, »Stille«, gelegentlich auch mit »Schweigen« übersetzt. Das Adjektiv דקה bedeutet »mager«, »dünn«, »leise« oder auch »schwach« (die mageren Kühe in Josephs Traum, [Gen 41,3], oder das hauchzarte Manna [Ex 16,14]). Gemeint ist also ein „Ruf“ an der Grenze des gerade noch Hörbaren, der, wie ich es im Titel dieses Beitrags genannt habe, überaus zarte Klang der Stille.
Die Gabe, diesen Klang wahrzunehmen, herauszuhören, ist Voraussetzung für Elijas Gespräch mit Gott, aber nicht einfach nur, weil man das Wort Gottes besser hören kann, wenn es still ist, sondern weil sie die entscheidende Gotteserfahrung ist, die Elija gefehlt hat, um aus seiner Krise herauszufinden und zugleich Gottes ständige Gegenwart und Zuwendung in einem anderen Licht zu sehen. Selbst wenn es im Buch der Könige anschließend dann gleich wieder rächend und mordend weitergeht, hier zeigt sich eine andere Weise der Gotteserfahrung und Gottesgewissheit, die beileibe nicht nur für einen mythischen Propheten des 9. Jh BC gelten sollte. Auch wenn sie sich nur vage umschreiben lässt, weil sie den Widerspruch gleichsam in der Schwebe hält, tastend und zugleich offen.
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Anmerkungen
[1] Die folgenden Überlegungen verdanken viel einem Paper der Literaturwissenschaftlerin Franziska Rauh, die derzeit in Mainz über „Rewriting als Verfahren im Umgang mit kanonischen Texten“ promoviert (Anleitung zum Perspektivwechsel: Gottes neue Zuwendung zu Elija), auch wenn ich zu etwas anderen Schlussfolgerungen gelange.
[2] Wo genau dieser Berg gelegen haben soll, verrät uns die Bibel nicht. Da hebräischחֹרֶב (=ḥorev) sonst „Einöde“ bedeutet, kann hier auch ein Gattungsname nachträglich als Ortsname verstanden worden sein, vermutlich von den Autoren der Septuaginta, die Horeb als Ortsnamen verstanden und deshalb nicht übersetzten, sondern das Hebräische einfach transkribierten: altgriechisch Χωρηβ (=Chōrēb).