Die Dinge des Lebens
Gestern abend habe ich mir endlich „Die Dinge des Lebens“ von Claude Sautet angesehen. Schon rein formal und filmtechnisch gesehen, ist er immer noch sehenswert und wegweisend. Pierre (Michel Piccoli) ist erfolgreicher Architekt und wird bei einem Autounfall schwer verletzt. Im Sterben liegend sinnt er in Rückblicken über „die Dinge des Lebens“ nach. In Rückblenden wird sein Leben erzählt: Pierre Bérard, Pariser Architekt, lebt mit der jungen Übersetzerin Hélène zusammen. Von seiner Frau Catherine und seinem Sohn Bertrand hat er sich zwar getrennt, doch beide verbindet immer noch ein freundschaftliches Verhältnis. So sagt er seiner Ex-Frau und seinem Sohn einen Urlaub auf der Île de Ré zu, statt – wie versprochen – mit Hélène nach Tunis zu verreisen.
Denn zwischen Hélène und Pierre kriselt es seit längerem. Pierre schreibt ihr einen Brief, in dem er Hélène die Trennung vorschlägt, besinnt sich aber und beschließt dann, ihr vorschlagen, sich in Rennes in der Bretagne zu treffen, um ihr dort einen Heiratantrag zu machen. Den Trennungsbrief steckt er in seine Jackentasche. Auf der Fahrt zu einem Geschäftstermin in Rennes muss Pierre einem Hindernis ausweichen und schleudert gegen einen Lastwagen. Schwer verletzt wird er in ein Krankenhaus gebracht. Bei seiner Ankunft sind Catherine und sein Sohn Bertrand bereits da, Hélène trifft wenig später ein. Pierre stirbt schließlich an seinen schweren Verletzungen. Doch der Brief befindet sich weiterhin in seiner Jackentasche…
Ich halte Michel Piccoli für einen wunderbaren Schauspieler. Doch eigentlich hat mir Sautets Film aus anderen Gründen gefallen. Ich mag solche Filme, die berühren und bei denen du die widerstreitenden Gefühle der Protagonisten mitfühlen kannst. Der Film hat mich nachdenklich gestimmt – wenn mir auch ganz andere Dinge als wichtig vor Augen aufschienen als Pierre im Film. Es gibt Momente, in denen du spürst, wie oberflächlich verheilt so manche Narbe der Vergangenheit ist und wie lebendig es sich hinter so mancher selbstverschlossenen Tür des eigenen Lebens noch regt. Und der Ausklang de Films verführt dazu, genau darüber nachzudenken.
Die Botschaft Sautets klingt auch in einem Gedicht von Ralph Waldo Emerson an, das ich sehr mag. Eine fernes Echo aus dem 19. Jh. – reimlos, doch mit einer Rhythmik, die ich in meiner Übertragung versucht habe nachzuempfinden:
Days
Daughters of Time, the hypocrite Days,
Muffled and dumb like barefoot dervishes,
And marching single in an endless file,
Bring diadems and fagots in their hands;
To each they offer gifts after his will,
Bread, kingdom, stars, and sky that holds them all;
I, in my pleached garden watched the pomp
Forgot my morning wishes, hastily
Took a few herbs and apples, and the
Day turned and departed silent. I too late
Under her solemn fillet saw the scorn.
Tage
Töchter der Zeit, pharisäische Tage,
Verhüllt und stumm wie barfüss’ge Derwische,
Und tragen einzeln ziehend in endloser Reih‘
Den Herrscherreif und Reisig in der Hand.
Sie bieten jedem Gaben seiner Wahl,
Brot, Krone, Sterne, selbst das Firmament.
Ich, in dichter Blätterlaube, sah die Pracht,
Vergaß die morgendlichen Wünsche, nahm hastig
Ein paar Kräuter mir und Äpfel, und so
Verging und leise schwand der Tag. Viel zu spät
Sah unter seinem festlich‘ Kopfputz ich den Hohn.
One Comment
josefine60
Die Dinge des Lebens.
Einer jener Filme, die ich wohl nie gesehen hätte, wenn ich nicht nach jenem erholsamen vormitternächtlichen Schlaf, in den mich das Fernsehen zur Primetime und oder danach einzulullen pflegt, unversehens auf dem Beifahrersitz neben Pierre wieder zu mir gekommen wäre. Klar hätte ich mich aufraffen können und ins Bett wanken. Aber es war mir unmöglich, einfach wegzugehen.
Und ich habe diesen Film in der Folge immer wieder mal gesehen. Und jedes Mal etwas Neues entdeckt. Eine andere Sichtweise. Etwas, was mir zuvor nicht aufgefallen war. Meine Sympathien wechselten – vermutlich entsprechend meiner derzeit eigenen aktuellen Situation.
Und doch war der Nachhall immer gleich deutlich. Diesen Film kann niemand sehen ohne tief berührt zu werden. Er bricht sorgfältig errichte Schutzmauern auf. Er lässt den Zuschauer zurück mit Fragen, die er oder sie sich eigentlich überhaupt nicht stellen will.
Und was wäre, wenn das meine letzte Fahrt wäre? Was war wirklich wichtig? Was ist wirklich wichtig?
Wobei das Wort „wirklich“ allein schon überflüssig ist.
Und was will ich zurücklassen?
Das Ende ist übrigens ein ganz eigenes geniales Konstrukt. Schade, dass es im nichtfilmischen Leben so selten gelingt, sich ohne Verletzungen oder – positiver ausgedrückt – versöhnlich-versöhnt zu verabschieden.
Ach, gäbe es doch mehr Filme von der Art!