Potockiana

Die Kunst des Plagiats

In Recherche Online fand ich diesen Beitrag von Felix Philipp Ingold:

Jean Potockis Handschrift von Saragossa und ihre Lesarten.

 

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Von Jean Potocki (d.i. Jan Graf Potocki, 1761–1815), dem polnischen Universalgelehrten und Verfasser der weithin bekannten Handschrift von Saragossa, sind insgesamt vier zeitgenössische Porträts überliefert. Das früheste dieser qualitativ eher mittelmäßigen Bildnisse, eine anonyme Miniatur von 1780, zeigt den 19-jährigen Weltenbummler als mädchenhaften Epheben mit wachem Blick und voluminöser rötlicher Haartracht; zehn Jahre danach malt ihn – angeblich – Francisco J. de Goya als melancholischen Intellektuellen von auffallend schmaler, etwas linkischer Gestalt; den 43-jährigen Forschungsreisenden, Diplomaten und Schriftsteller setzt Giovanni B. Lampi vor einer Wüstenlandschaft mit Palmen und Pyramiden als nachdenklichen, in die Leere blickenden Gelehrten ins Bild, der auf seinen Knien eine Schriftrolle hält und auf der Brust zwei große Orden trägt; und wiederum von einem Anonymus wird Potocki um 1808 als wohlbeleibter Gutsherr mit Spitzenhemd und knapp sitzender Hose dargestellt, den rechten Arm hat er unter die Frackbrust geschoben, das üppige Kinn im Spitzenkragen versenkt.

Dass die Porträts stets dieselbe Person zeigen, ist keineswegs evident – dem äußern Anschein nach gibt es zwischen ihnen weit mehr Unterschiede als Übereinstimmungen; selbst die Augen, die beim jungen Potocki strahlend auf den Betrachter gerichtet sind, später in wässrigem Blau verschwimmen und schließlich ausdruckslos in die Ferne oder auf den Boden gerichtet sind, scheinen jedesmal zu einer andern Physiognomie zu gehören. Dieser Anschein beruht wohl darauf, dass Jean Potocki ein Mensch mit vielen Gesichtern war, ein Mann, der verschiedene – auch gegensätzliche – Rollen perfekt zu verkörpern wusste, ein Mann aber auch, der nicht ganz von dieser Welt gewesen sein mag, eben weil für ihn Rollenspiel und Lebensführung oftmals so stark interferierten, dass ihm weder die klare Trennung, noch die riskante Gleichsetzung der beiden Sphären jemals gelingen konnte.

Nicht nur Potockis weitläufiges Leben, auch sein ebenso umfangreiches wie heterogenes Werk ließe sich – um einen ersten adäquaten Eindruck davon zu vermitteln – am besten in Listenform vergegenwärtigen. Die Liste der Orte, die er als Tourist oder Forschungsreisender aufgesucht hat, die Liste der Zeitgenossen, die er frequentiert oder mit denen er korrespondiert hat, die Liste der Berufe und Funktionen, die er ausgeübt, die Liste der Sprachen, die er beherrscht, die Liste der Bücher und Archivalien, die er durchgearbeitet, die Liste der Themen und Probleme, denen er sich gewidmet, die Liste der Schriften, die er verfasst und größtenteils als Privatdrucke in Kleinstauflagen veröffentlicht hat – all dies weist ihn als einen Universalgelehrten von europäischem Rang aus, der für sich beanspruchen kann, einer der letzten großen Generalisten und zugleich ein Lebenskünstler von staunenswerter Vitalität gewesen zu sein.

Bloß ein paar wenige Fakten seiner familiären und intellektuellen Biografie seien an dieser Stelle vorab angeführt. Als zivile Person gehörte Jean Potocki dem polnischen Hochadel an. In ganz Europa hatte er Umgang mit seinesgleichen; Könige, Minister, Generäle, Diplomaten waren seine Gesprächs- und Briefpartner. Als Berufsoffizier der österreichischen Armee war er im bayerischen Erbfolgekrieg engagiert. Als Politiker und Publizist hat er vor Ort die letzte Teilung und damit das Verschwinden Polens von der Landkarte beobachtet, um später – die Jahre 1804/1805 verbrachte er in Petersburg – als ausgewiesener Orientalist im Auftrag der russischen Regierung ein großangelegtes Konzept zur wirtschaftlichen Erschließung Asiens zu erarbeiten. Mit führenden Philosophen, Wissenschaftlern und Literaten unterhielt er – überall in Europa – ebenso freundschaftliche Beziehungen wie mit einigen der schönsten Damen der damaligen Salonwelt, zu denen im Übrigen auch seine erste Frau sowie manche seiner weiblichen Verwandten und Bekanntschaften gehörten.

Nur wenige Jahre seines Lebens verbrachte Potocki in der polnischen Heimat, wo seine Familie über große Territorien, Stadtpaläste und Landgüter verfügte. Zumeist war er, in nomadisch anmutender Suchbewegung, rastlos unterwegs zwischen Nordafrika und Zentralasien; oft auch hielt er sich für längere Zeit zu Forschungszwecken in abgelegenen Gebieten auf, bei den Kalmücken im Gebiet um Astrachan, im Kaukasus, in Sibirien, in der Mongolei. Potockis Interessen und Kompetenzen umfassten ein ausgedehntes interdisziplinäres Einzugsgebiet, zu dem so disparate Fachbereiche gehörten wie Archäologie, Ethnographie, Folkloristik, Dialektologie, Mathematik und Astronomie, Ägyptologie, Kaukasologie und Sinologie, Philosophie und Religionswissenschaft, Welt- und Regionalgeschichte und anderes mehr. Zu all diesen Disziplinen liegen von Potocki wissenschaftliche Abhandlungen vor, doch keines seiner Forschungsprojekte – auch nicht seine prestigiöse „neue Chronologie“ zur vorchristlichen Weltgeschichte oder die umfassende landeskundliche Beschreibung der russländischen Gouvernemente – hat er zum Abschluss gebracht.

In der Wissenschafts- und Technikgeschichte verbindet sich Potockis Name eher mit spektakulären Unternehmungen denn mit soliden Forschungsergebnissen: Er war an der Entdeckung und Bergung des ersten Mammuts aus sibirischem Boden beteiligt, und als Erster hat er 1790 einen Aufstieg im Freiballon über polnischem Terrain absolviert. So rastlos er zeitlebens unterwegs war und so unstet er seine wissenschaftlichen Projekte verfolgte, so inkonsequent – wenn nicht illoyal – war seine politische Haltung, die ihn bedenkenlos die Fronten wechseln ließ: Ob er sich für oder gegen die Französische Revolution stark machte, für oder gegen Napoleon, für oder gegen die polnischen Teilungen, für oder gegen das russische Imperium, er tat es mit stets gleichbleibender kurzatmiger Begeisterung und erkannte offenbar keinen Unterschied zwischen Verrat, Renegatentum und Spielerei. Dass ihm letztlich „alles eins“ beziehungsweise alles gleichermaßen gültig war, machte er auch in religiöser Hinsicht deutlich, hegte er doch als polnischer Katholik großen Respekt vor dem deutschen Protestantismus und war, darüber hinaus, ebenso vom Judentum wie vom Islam fasziniert, den beiden andern monotheistischen Weltreligionen, die er dank profunder einschlägiger Studien vermutlich besser kannte als das Christentum.

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Wenn sich Jean Potocki neben seiner ausgedehnten Reise- und Forschungstätigkeit während rund zwanzig Jahren mit einem erzählerischen Großprojekt beschäftigt hat, um sich zusätzlich als Literat einen Namen zu machen, so geschah dies wohl einerseits aus Frustration wegen mangelnder wissenschaftlicher Anerkennung, anderseits aus der Einsicht, dass die Welt allein durch wissenschaftliche Bemühungen weder zu erklären noch zu gestalten sei; dass also deren rationale Erschließung ergänzt werden müsse durch sinnliche Erfahrung und künstlerische Einbildungskraft. Das Erzählwerk, an dem er ab 1794 bis 1815 zwar sporadisch, aber doch sehr zielbewusst arbeitete, schließt die rationale mit der irrationalen Sphäre menschlichen Erkennens zu einem virtuellen Kosmos zusammen, dessen labyrinthische Anlage unentwegt zwischen Ordnung und Chaos zu schwanken scheint – zwischen der rigiden Ordnung von Hierarchien, Gesetzen, Ritualen und der unkontrollierbaren Eigendynamik von Zufällen, Schicksalen, Traumbildern, Visionen, Fiktionen.

Der Text, dessen jüngste Edition aus zwei eigenständigen Werken im Umfang von insgesamt 1.600 Druckseiten besteht und nun unter dem gemeinsamen Titel Handschrift, aufgefunden in Saragossa (Manuscrit trouvé à Saragosse) vorliegt, hat in seiner langjährigen Entstehungszeit mehrere Redaktionen erfahren, ist auch mehrfach – in immer wieder anderer Gestalt – publiziert worden und hat doch nie eine vom Autor beglaubigte definitive Form gefunden.1 Inzwischen hat sich bereits ein internationales Gremium von Handschrift-Experten konstituiert, das im vergangenen Jahrzehnt diverse, für die Potocki-Forschung wegweisende Workshops abgehalten und Sammelbände publiziert hat. Im Internet gibt es eine professionell bewirtschaftete Website der Universität Montpellier (http://recherche.univ-montp3fr/jeanpotocki), über die biobibliografische Daten, Bilddokumente, Forschungs- und Veranstaltungsprogramme abgerufen werden können.

Die Sekundärliteratur über Potocki und die Handschrift ist schon heute kaum noch überschaubar; schwerpunktmäßig verteilt sie sich im Wesentlichen auf Frankreich, Belgien, Italien und Polen, wohingegen die einschlägige Forschung im deutschen Sprachbereich bisher eher zurückhaltend geblieben ist, obwohl hier – in Leipzig – bereits 1809 eine erste (anonyme) Teilübersetzung der Handschrift und seit 1847 ebenda eine weit umfangreichere polnische Fassung vorlag. Gegenwärtig ist die Handschrift von Saragossa – so lautet der gängige, wenn auch unvollständige Werktitel – in rund einem Dutzend unterschiedlicher deutscher Buchausgaben greifbar, von denen keine dem aktuellen Stand der Textkritik zu entsprechen vermag.2

Man hat Die Handschrift von Saragossa bald als eine Sammlung von Abenteuer- oder Horrorgeschichten, bald als Entwicklungs-, Initiations- oder Bildungsroman zu bestimmen versucht, doch so wenig das Genre geklärt ist beziehungsweise sich klären lässt, so unklar ist die Gesamtanlage des Werks. Eine linear rekapitulierbare Handlung gibt es nicht, vielmehr bewegt sich die Lektüre durch ein mehrschichtiges Textgefüge, innerhalb dessen man den labyrinthischen Grundriss immer wieder aus dem Blick verliert – eine Verwirrung, welche auch dem Romanpersonal und selbst dem Erzähler nicht erspart bleibt. Der enzyklopädisch gebildete Mathematiker Don Pedro Velasquez, der als Berichterstatter wie als Protagonist mit mehreren Geschichten zur Handschrift beiträgt, muss bekennen, er könne „noch so aufmerksam lauschen“, doch entgehe ihm „der Zusammenhang völlig“: „Ich weiß nicht mehr, wer eigentlich spricht oder wer zuhört … Das ist wirklich sehr verworren.“

Eine Vielzahl von Zeugen, echten wie falschen, geben in Form von erlebten und erdichteten Geschichten zu Protokoll, was der Protagonist (zugleich der Erzähler) der Rahmengeschichte, Alphonse van Worden, bei seiner Durchquerung der Sierra Morena in Spanien an Abenteuern, Provokationen, Prüfungen, Anfechtungen, Verfolgungen, Bestrafungen und fleischlichen Lüsten erfährt, bevor er zu ahnen, dann zu begreifen beginnt, dass alles von ihm Erlebte konspirativ inszeniert worden ist, um seine Tauglichkeit als künftiger Sippenführer der Gomelez zu prüfen, eines vormals mächtigen Geschlechts, dem er selbst, ohne sich dessen bewusst gewesen zu sein, angehört und das, wie er nun erkennen muss, bereits in Auflösung begriffen ist.

Zweifellos hat Jean Potocki in dieses (sein einziges) Erzählwerk sehr viele Realien aus der eigenen, weit zurückreichenden Familiengeschichte investiert, wobei er offenkundig darauf bedacht war, den privaten Stoff durch Exotismen und Fantasmen jeglicher Art bis zur Unkenntlichkeit zu verfremden. Die jüngste, von François Rosset und Dominique Triaire erstellte Textfassung der Handschrift von Saragossa lässt das Hauptanliegen des Autors deutlicher hervortreten als die früheren Buchausgaben. Zwar geht es auch hier um die Gegenüberstellung rationalen Denkens und fantastischer Imagination, doch nicht der Widerstreit steht im Vordergrund, sondern die Verschmelzung der beiden Sphären, die Einsicht mithin, dass Rationalität als solche zum Fantastischen tendiert und umgekehrt das Fantastische einer eigenen Rationalität zu unterliegen scheint.

Synthese und Analyse gehen in der Handschrift von Saragossa auf allen Ebenen, gegenseitig sich relativierend, ineinander über – Religionen, Wissenschaften, Künste, auch Landstriche, Geschichtsepochen oder unterschiedliche Kulturen sowie Menschen unterschiedlicher Rassen, unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlichen Ranges werden wertungsfrei nebeneinander gestellt, so dass trotz bestehender Differenzen letztlich alles in seiner Gleichwertigkeit erkennbar wird. So wie Potocki in der Handschrift das Christentum, den Islam und das Judentum als eine Großreligion imaginiert, scheinen seine wichtigsten Protagonisten – ein Scheich, ein Eremit, ein Kabbalist, ein Mathematiker, ein Zigeuner, ein Ritter und andere mehr – zu einem Weltbürger zu verschmelzen, in dessen Bewusstsein alle nationalen, kulturellen, konfessionellen oder ideologischen Antagonismen und auch historische Epochenunterschiede überwunden sind. Die in der Handschrift von Saragossa rapportierten Geschichten, Gespräche, Sendschreiben, Erinnerungen, Träume gehören weit auseinander liegenden Zeiten an – der unmittelbaren Gegenwart ebenso wie der fernsten Vergangenheit oder einer möglichen künftigen Epoche – und sie beziehen sich räumlich auf ein entsprechend ausgedehntes transnationales Einzugsgebiet.

In literarischer Hinsicht kommt Potocki von daher zu dem radikalen Schluss, dass auch alle je verfassten Texte als gleichwertig (wiewohl nicht als gleichrangig) zu betrachten sind und dass demzufolge Fremdtexte zu immer wieder neuen Originaltexten synthetisiert werden können. Allein durch die Art und Weise, wie die Fremdtexte verknüpft werden, gewinnen sie ihre Originalität und Unverwechselbarkeit. Potockis Handschrift erweist sich denn auch (in all ihren Fassungen) als ein ingeniöses Kompilat von Fremdtexten. Dieses geradezu postmodern anmutende Verfahren (das den Autor als Schöpfer obsolet werden lässt) wird von Potocki auf der Erzählebene des Werks explizit thematisiert.

Eine kurze Vorbemerkung zur Handschrift von Saragossa bereitet Leser und Leserinnen auf die nomadische Lektüre vor. Ein fiktiver (anonymer) Offizier der französischen Armee teilt auf ein paar Zeilen mit, dass er das Werk nach der Eroberung und Plünderung der Stadt Saragossa in einem verlassenen Haus inmitten „ganz wertloser Dinge“ gefunden habe. Er habe sich das spanische Manuskript „angeeignet“ in der Überzeugung, „dass dieses Buch nie mehr in die Hände seines rechtmäßigen Eigentümers gelangen werde“. Wenig später sei er jedoch von einer feindlichen Patrouille aufgegriffen und gefangen gesetzt worden. Dabei habe man unter seinen Habseligkeiten auch die Handschrift gefunden. Nicht als Räuber, vielmehr als Retter spanischen Kulturguts sei er vom gegnerischen Hauptmann in dessen Haus eingeladen worden, wo er sich in der Folge während eines längeren Aufenthalts das spanische Manuskript ins Französische habe übersetzen lassen.

Die Handschrift von Saragossa erweist sich somit als ein gefundener Text (was der deutsche Titel nicht erahnen lässt), verfasst von einem anonymen Autor, übersetzt von einem anonymen Offizier und „nach Diktat“ aufgeschrieben von einem wiederum anonymen Kopisten, nämlich dem gefangenen Franzosen selbst. Jean Potocki, der wahre Autor, übernimmt die Rolle des fiktiven Herausgebers, signiert aber das Werk mit seinem eigenen Namen. Dieses auktoriale Rollen- und Versteckspiel findet auf den verschiedenen Erzählebenen der Handschrift seine weit verzweigte Fortsetzung und macht die Lektüre tatsächlich zu einem labyrinthischen Abenteuer.

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Als ein labyrinthisches Abenteuer erweist sich aber auch – nunmehr auf der Ebene der Empirie – die Editions- und Rezeptionsgeschichte der Handschrift von Saragossa. Erst seit Kurzem lässt sich diese verwirrliche, mehrfach umgeschriebene und immer wieder ergänzte Geschichte einigermaßen plausibel rekonstruieren.3

Es ist eine Geschichte (history), die auch eine „Geschichte“ (story) von Jean Potocki sein könnte, eine Überlieferungsgeschichte, die gleichermaßen von Zufällen, Ambivalenzen, Missverständnissen und Irreführungen vorangetrieben wird, die weiterhin zahlreiche Lücken aufweist und bis heute nicht als abgeschlossen gelten kann. Eben dies trifft auch auf den Text als solchen zu, von dem keine Fassung letzter Hand bekannt ist und den wir lediglich in virtueller Gestalt vorliegen haben – so wie ihn Potocki zuerst im Jahr 1804, dann erneut (nach vollständiger Umarbeitung) im Jahr 1810 erstellt, nicht jedoch formell abgeschlossen und auch nie zum Druck befördert hat. In den verbleibenden fünf Jahren bis zu seinem Lebensende hat er mehrfach auf die Handschrift zurückgegriffen, hat sie ab- und umgeschrieben, teilweise auch ergänzt, um das Werk auf ein Finale hin zu disponieren, von dem er wohl selbst keine klare Vorstellung hatte und das vielleicht, bei der offenen Gesamtanlage des Texts, auch gar nicht zu bewerkstelligen war.

Wenn heute die beiden von Rosset/Triaire redigierten Bände als die verlässlichste Textbasis der Handschrift von Saragossa anerkannt sind und genutzt werden, heißt dies keineswegs, dass die Ausgabe auch den Intentionen des Autors entspricht beziehungsweise entsprochen hätte. Man kann es sich vorstellen, einen valablen Beleg dafür gibt es nicht. Tatsache ist jedenfalls, dass nun unter gemeinsamem Titel zwei unterschiedliche, der Intention nach gegenläufige, allerdings mit dem gleichen Personal ausgestattete Romane vorliegen, die als ein Werk gelten sollen. Da der polnische Graf die Handschrift von Saragossa in französischer Sprache abgefasst hat, stellt sich zusätzlich die Frage, ob der Text als Original oder als Übersetzung zu betrachten ist, und also auch, ob das Werk insgesamt der polnischen oder der französischen Nationalliteratur angehört.

Die verwirrliche Editionsgeschichte beginnt 1804/1805 in Petersburg mit zwei Vorabdrucken aus der Textfassung von 1804, setzt sich fort in Leipzig mit der Publikation einer deutschen Teilübersetzung (1809), gefolgt von zwei umfangreicheren Auszügen unter dem Titel Avadoro, histoire espagnole (Avadoro, eine spanische Erzählung) sowie Dix Journées de la vie d’Alphonse van Worden (Zehn Tage aus dem Leben des Alphonse van Worden), erschienen 1813/1814 in Paris. Auf der Grundlage dieser anonymen Edition, die kaum Beachtung fand und rasch vergessen war, kam es ab 1841 zu mindestens drei plagiatorischen Nachdrucken, durch die der Autor und sein Werk vorübergehend nochmals ins Gespräch kam und deren Erfolg vermutlich auch zum Anlass für die erste Ausgabe der Handschrift von Saragossa in polnischer Sprache wurde (Leipzig 1847).

Welche Textfassung der Übersetzer, Edmond Chojecki, verwendet hat, ist unbekannt – er soll die Vorlage vernichtet haben, was naturgemäß zu neuen Spekulationen führte. War Chojecki im Besitz einer von Potocki selbst aus den Manuskripten von 1804 und 1810 synthetisierten Nachschrift, die als „definitiv“ gelten könnte, nun aber verloren wäre? Oder hat er aus den damals vorliegenden Teilpublikationen eine eigene konjekturale Fassung erstellt? Vielleicht hat er aber auch – dritte Möglichkeit – die Buchausgaben von 1813 und 1814 so eigenmächtig übersetzt und bearbeitet, dass man eher von einer Nachschrift oder gar von einem Kompilat zu reden hätte?

Bis heute lässt sich keine dieser Fragen schlüssig beantworten, und so kommt es, dass Potockis Handschrift, obwohl sie zwischenzeitlich in den Kanon der Weltliteratur eingegangen ist, weiterhin in unterschiedlichen Fassungen gedruckt, übersetzt, gelesen, kommentiert und gedeutet wird. Die literarische Kanonisierung der Handschrift von Saragossa setzte 1958 ein, als Roger Caillois anhand der anonymen Druckvorlage von 1805 eine von ihm aufbereitete und ergänzte Lesart in Umlauf brachte, die er knapp zehn Jahre danach, 1967, in revidierter Fassung ein weiteres Mal bei Gallimard in Paris veröffentlichte. Diese Ausgabe wurde zum Anlass von Potockis Wiederentdeckung und zur Grundlage für zahlreiche Übersetzungen der Handschrift weit über Europa hinaus.

Angesichts solch fulminanten Nachruhms kündigte Gallimard bereits 1972 eine kritische Edition des Werks in der renommierten Bibliothèque de la Pléïade an, die jedoch bis heute nicht erscheinen konnte; vermutlich war – und ist – die Quellenlage des Textkonglomerats trotz intensivierter Forschung zu wenig abgesichert, als dass der Verlag eine Klassikerausgabe letzter Hand hätte wagen wollen. Derweil legte René Radrizzani 1989 eine von ihm neu konzipierte, bemerkenswert kohärente Werkfassung vor, die er – im Gegensatz zur gängigen Potocki-Philologie – auf Chojeckis polnische Übersetzung abstützte und durch eine Reihe von anderweitigen Zusätzen vervollständigte. Diese Neuedition vermochte freilich die inzwischen international eingebürgerte Teilausgabe von Caillois nicht mehr zu verdrängen und wird nun ohnehin durch die eingangs erwähnte zweibändige Edition von Rosset/Triaire (2006; 2008) konterkariert.

Dass Die Handschrift von Saragossa in solch offener, geradezu wuchernder Textgestalt überliefert ist, mag vom Autor beabsichtigt gewesen sein, ist aber gleichermaßen seinen Herausgebern, Übersetzern, Verlegern, Kritikern, Exegeten und – nicht zuletzt – seinen Plagiatoren zuzuschreiben. Ohne sie wäre dieses Meisterwerk der fantastischen Literatur und mit ihm Jan Graf Potocki (der seinerseits ein genialischer Plagiator war) wohl gänzlich der Vergessenheit anheimgefallen.

Anmerkungen:
1 Jean Potocki, Manuscrit trouvé à Saragosse. Édition établie par François Rosset et Dominique Triaire. (Fassungen von 1804 und 1810 in zwei separaten Bänden.) Peeters Publishers, Louvain 2006; als Taschenbuch in der Reihe GM bei Éditions Flammarion, Paris 2008.
2 Vgl. dazu http://www.amazon.de/s/ref ; als jüngste Ausgaben sind greifbar Die Handschrift von Saragossa oder Die Abenteuer in der Sierra Morena, Aufbau Verlag, Berlin 2005, sowie Die Handschrift von Saragossa, Verlag Kein & Aber, Zürich 2003; als Taschenbuch liegt beim Insel Verlag weiterhin die von Roger Caillois erstellte Kurzfassung vor (Frankfurt 1975).
3 Siehe dazu neuerdings Bernard Gauthier, „Deux ou trois fantômes du Manuscrit trouvé à Saragossa“, in La Revue des Ressources (15.02.2010) auf http://www.larevuedesressources.org/spip.php?article1518 .

 

Felix Philipp Ingold arbeitet nach langjähriger Lehrtätigkeit an der Universität St. Gallen als freier Publizist, Schrift-steller und Übersetzer in Romainmôtier. Zu seinen jüngsten Buchpublikationen zählen: Gegengabe aus kritischen, poetischen und privaten Feldern (2009), Faszination des Fremden (2009); als Übersetzer und Herausgeber: Anatol von Steiger, Dieses Leben (Gesammelte Gedichte Russisch–Deutsch, 2008).

Quelle: http://www.recherche-online.net/potocki-die-handschrift-von-saragossa.html

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