Die Quellen des angeblichen Schweizer „Professors“ Robert Baldauf
Was wurde nicht alles schon kolportiert über einen berühmten Unbekannten, den „Basler Professor und Sprachforscher“[1] Robert Baldauf, vor allem in Kreisen der Chronologiekritiker. Ein „genialer Philologe“ sei er gewesen, methodisch „mustergültig“, ja geradezu „revolutionär“, und dessen „Entlarvung der angeblichen alten Literatur als humanistische Schöpfung (…) nicht zu widerlegen“ sei.[2] Ach ja? Geht es nicht vielleicht eine Nummer kleiner?
Nicht nur Robert Baldaufs Leben speiste sich über Jahre hinweg aus Legenden, die einer vom anderen abschrieb, weil es offenbar niemand genauer wissen wollte. Ich habe in meiner Nachlese zu Robert Baldauf mit der ausgezeichneten Vorarbeit von Andreas Volkart, der als erster überhaupt mal in Schweizer Archiven nachgeforscht hat, ein für alle Mal ausschließen können, dass Robert Baldauf in Basel oder sonstwo eine Professur gehabt haben könnte, oder dass es sich bei diesem Autoren, wie auch gemutmaßt wurde, um ein Pseudonym Friedrich Nietzsches gehandelt haben könnte. Auch seinen Quellen nachzuspüren, ist angesichts seines schludrigen Umgangs mit denselben schon ein weiteres Stück Detektivarbeit. Doch wenn man sich der Mühe unterzieht, dann bleibt vom „genialen Philologen” nicht mehr viel übrig – zumindest nicht viel Eigenleistung über das hinaus, was von der damaligen Fachwissenschaft diskutiert wurde.
Bei seinen inhaltlichen und stilistischen Vergleichen (der lateinischen Texte) der gesta Caroli des Notker balbulus mit den casus St. Galli des Mönches Ekkehart IV. stützte sich Baldauf eigenen Angaben zufolge ( (Bd. I, S. 13) auf die Übersetzungen und Kommentare zweier Autoren, die damals den wissenschaftlichen Standard repräsentierten: Gerold Meyer von Knonau und Wilhelm Wattenbach, außerdem noch auf Franz Weidmanns Geschichte der Bibliothek von St. Gallen (bes. auch in Bd. IV). Den weiteren historischen Background lieferten ihm die Brockhaus-Ausgabe von 1887, auf die er sich mehrfach bezieht, und einige zeitgenössische Aufsätze aus den Jahren 1883 bis 1901, wobei nicht immer klar ist, ob er die Literaturhinweise nur aus zweiter Hand übernommen oder die angegebenen Quellen tatsächlich selbst gelesen hat.
Ganz sicher decken die folgenden drei Bücher etwa 80% von Baldaufs »Gesamtwerk« ab, vor allem die seitenlangen Quellenvergleiche und lateinischen Stilanalysen:
- Meyer von Knonau, Gerold: Ekkeharti (IV.) Casus sancti Galli (= St. Gallische Geschichtsquellen. Bd. 3 = Mittheilungen zur vaterländischen Geschichte. Bde. 15/16), St. Gallen 1877
- Wattenbach, Wilhelm: Notker Balbulus (der Stammler). Der Mönch von Sanct Gallen über die Thaten Karls des Großen (Berlin: Besser 1850). 3. verm. Aufl. Leipzig: Dyksche Verlagsbuchhandlung 1890
- Weidmann, Franz: Geschichte der Bibliothek von St. Gallen seit ihrer Gründung um das Jahr 830 bis auf 1841. Aus den Quellen bearbeitet auf die tausendjährige Jubelfeier. St. Gallen 1841
Hinzukommen ein paar Aufsätze oder Bücher, die in den Jahren seiner Studienzeit oder nicht weit davor erschienen waren:
- Excurs VII. Bemerkungen zum Monachus Sangallensis. In: Bernhard Simson (Hg.): Jahrbücher des fränkischen Reiches unter Karl dem Großen. Bd. 2, Leipzig: Duncker & Humblot 1883, S. 612-615
- Zeumer, Karl: Der Mönch von Sankt Gallen. in: Historische Aufsätze. Dem Andenken an Georg Waitz gewidmet. Hannover: Hahn 1886, S. 97-118
- Bühne und Welt. Zeitschrift für Theaterwesen, Literatur und Musik, Jg. I, 1. Hj. (1898-99)
- Bippen, Wilhelm von: Die Hinrichtung der Sachsen durch Karl den Grossen. in: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 1 (1889) S. 75-95 (sowie die kurze Erwiderung von Heinrich Ulmann: Zur Hinrichtung der Sachsen. ebd., S. 156-157)
- Meyer, Wilhelm: Der Gelegenheitsdichter Venantius Fortunatus. In Abhandlungen der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Gesellschaft der Wissenschaften Göttingen. Bd. IV, Ausg. 5, 1901
- Landau, Markus: Die Erdenwanderung der Himmlischen und die Wünsche der Menschen. in: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte. NF XIV (1901), S. 1-26
- Lehnerdt, Max: Cencio und Agapito de‘ Rustici. Neue Beiträge zur Geschichte des Humanismus in Italien. In: Zeitschrift für vergleichende Literaturgeschichte. NF XIV (1901), S. 289-310
- Trede, Theodor: Wunderglaube im Heidentum und in der alten Kirche. Gotha: Perthes 1901
Literaturverweise aus der Sekundärliteratur werden durchweg ungenau und nicht zitierfähig angegeben, gelegentlich auch mal falsch (abgeschrieben?). So existiert z.B. in der Historischen Zeitschrift 42, III (1879) kein Aufsatz von F. Kurze (Bd. I, S. 99). Gemeint ist anscheinend der Aufsatz von Heinrich von Sybel „Die karolingischen Annalen“ (S. 260-288), den der Oberlehrer Dr. Friedrich Kurze in einer kleinen Studie über Einhard in einer Fußnote anführt, erschienen als Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht Ostern 1899 des Königlichen Luisengymnasium zu Berlin (S. 15). Dass ausgerechnet diese kleine Schrift von gerade einmal 98 Seiten nicht genannt wird, aber dafür Kurzes Name fällt, verrät uns eine weitere Quelle, der Baldauf auch den Verweis auf den o.g. Exkurs Bernhard Simsons verdankt. Auch darauf wird auf derselben Seite verwiesen.
Die konsequente Falschschreibung des Namens Lehnerdt (ohne dt) und das falsch angegebene Erscheinungsjahr von dessen Aufsatz in Bd. IV habe ich bereits andernorts erwähnt. Aus dem von Bernhard Simson herausgebenen Bd. 2 der „Jahrbücher des fränkischen Reiches unter Karl dem Großen“, aus dem er immerhin seitenweise referiert (Bd. I, ab S. 3) werden bei Baldauf die „jahrbücher des deutschen reiches unter Karl dem großen“.
Den entscheidenden Hinweis bekommt man aber nicht, indem man nach Druckfahnen sucht oder der Kleinschreibungs-Marotte nachgeht. Man bekommt ihn auf den S. 105 und 125 von Bd. I. An beiden Stellen möchte Baldauf den Beweis erbringen, dass Notker balbulus, dessen Werk er für eine Erfindung des St. Gallener Mönches Ekkehart IV. hielt, ganze Passagen aus Herodot bzw. aus dem alten Testament (Daniel u. andere Bücher) in seiner Geschichte Karls des Großen plagiiert. In beiden Fällen fügt er in Paranthese als Quelle an „(nach der mittheilung von) prof. baumgartner-Basel”.
Was hat es damit auf sich? Der Altphilologe und Historiker Adolf Baumgartner übernahm nach einigen Jahren als außerordentlicher Professor im Jahre 1891 den seit 1886 vakanten Lehrstuhl für allgemeine Geschichte des berühmten Carl Jakob Burkhardt, and zwar auf dessen ausdrückliche Empfehlung.
Adolf Baumgartner hatte sich schon 1880 mit seiner Dissertation Ueber die Quellen des Cassius Dio für die ältere römische Geschichte einen Namen als exzellenter Quellenkritiker erworben, dem er bis zu seinem Tode 1930 treu blieb. Obwohl er nach der Übernahme des Lehrstuhls nur noch wenig veröffentlichte, forschte er nicht nur unermüdlich in einem ungeheuer breiten historischen Spektrum, er war auch ein brillianter Hochschullehrer, der aufgrund seines stupenden Wissens und der Kenntnis der entlegensten Quellen seine Studenten stets aufs Neue mit ungewöhnlichen Schlussfolgerungen und Vergleichen überraschte.
Seine gelehrten Exkurse über historische Berühmtheiten, nicht selten mit respektlosem und sarkastischem Unterton vorgetragen, trugen zu seiner Beliebtheit bei den Studenten bei. Um seine Vorlesungen, die er stets ohne Manuskript frei hielt, kam niemand herum, der zur Studienzeit Baldaufs an der Universität etwas lernen wollte. Aber das konnte man eben nur, wenn man zu seinen Vorlesungen oder außeruniversitären Vorträgen ging – seine Publikationsliste blieb bis zu seinem Tod höchst überschaubar. Baumgartners Quellenkritik, die er mit hohem ethischen und gesellschaftskritischem Anspruch vortrug (ein Grund, warum er mit Nietzsche, bei dem er selbst noch studiert hatte, vollständig brach) und zu der er stets auch seine Studenten ermunterte, machte seine Vorlesungen zu Publikumsmagneten. „Sein Tagewerk”, hieß es 1931 in einem Nachruf, den der Althistorker Felix Staehelin, einer seiner Kollegen, verfasst hatte, „war ausgefüllt durch unablässige Quellenlektüre, durch seine Vorlesungen und die vor weiteren Kreisen gebildeter Hörer mit bewundernswerter Gedächtniskraft in freier Rede gehaltenen Vorträge. Unmittelbar aus den Quellen strömten ihm da die anschaulichen und belebenden Einzelzüge zu, und sie fesselten die Hörer ebenso sehr wie der originelle und selbständige Geist seiner Persönlichkeit, der den Stoff beseelte.”
Es würde mich sehr wundern, wenn der Vorlesungsplan der Uni Basel (oder auch der Nachlass Baumgartners in der Universitätsbibliothek) nicht während der kurzen Studienzeit Baldaufs eine oder mehrere Vorlesungen oder Vorträge Baumgartners zu den Themen, die Baldauf in seinen beiden Büchern aufgriff, ausweisen würde. Denn ich glaube, dass Baumgartner nicht nur sein Impulsgeber für ein quellenkritisches Vorgehen war, sondern dass er ihm auch die entscheidenden Literaturhinweise, wenn nicht gar die Thematik selbst verdankt.
Anmerkungen
[1] So zu lesen z.B. bei Paul C. Martin: Was las man denn zur Karolingerzeit? Teil II. In: Zeitensprünge 4 (2000), S. 639
[2] Christoph Pfister: Die Matrix der alten Geschichte. Eine Einführung in die Chronologiekritik. Norderstedt: BoD 2013, S. 27