Jacques Prévert – Der Barde des 20. Jahrhunderts
Les enfants du paradis
Der Olymp des Theaters, das war keineswegs der Gipfel der Seligkeit; es waren die billigen Stehplätze hoch oben auf der Galerie, die sich das einfache Volk gerade noch leisten konnte, was seiner geradezu kindlichen Begeisterung allerdings keinen Abbruch tat. Die Kinder des Olymp, so nannte der französische Dichter Jacques Prévert sein wohl berühmtestes Werk, ein Drehbuch, das er nach einer Idee des Pantomimen Jean-Louis Barrault schrieb, der auch eine der Hauptrollen spielte.
Wer sich mit der Biographie Préverts befasst, der am 4. Februar 1900 im Pariser Vorort Neuilly-sur-Seine zur Welt kam und am 11. April 1977 in Omonville-la-Petite (Normandie) starb, würde vielleicht nicht gerade auf die Idee kommen, ihm sei die Poesie in die Wiege gelegt worden. Er stammte aus, wie man heute sagen würde: prekären Verhältnissen. Préverts Vater schlug sich lange Zeit mit Gelegenheitsarbeiten durch, bis er schließlich in Paris eine Anstellung bei einer Wohltätigkeitsorganisation fand. Der junge Jacques war anscheinend nicht gerade auf Rosen gebettet und driftete früh ins Milieu der Kleinkriminalität ab. Er konnte von Glück sagen, dass er geschickt genug war, sich bei seinen Diebstählen nicht erwischen zu lassen. Noch Jahre später wunderte sich Prévert selbst über die „Jungfräulichkeit“ seines Vorstrafenregisters.[1]
Aber wer weiß, vielleicht war auch das bloß eine weitere Inszenierung in einem Leben, in dem es keine strikte Trennung gab zwischen Kunst, Traum und Realität. Denn sein Vater war kein einfacher Arbeiter, er war Theaterkritiker und er nahm seinen Sohn oft zu Aufführungen mit oder ins Kino. Seine Mutter vermittelte ihm die Lust am Lesen. Mit dem Mindestalter 15 Jahren verließ er dennoch gelangweilt die Schule, die er oft genug geschwänzt hatte, und arbeitete in einem Pariser Kaufhaus.
1920, während seines Militärdienstes, lernte er Yves Tanguy kennen, den späteren surrealistischen Maler, und auch den späteren Schriftsteller Marcel Duhamel. Mit beiden teilte er in den frühen 20er Jahren einige Jahre lang die Wohnung. Ein weiterer Autor, sein Freund Raymond Queneau, führte ihn 1925 in André Bretons Gruppe der Surrealisten an, aus der er jedoch bald wie so mancher andere durch den unberechenbaren André Breton auch wieder vertrieben wurde. Denn der war nicht nur die zentrale, alles entscheidende Person in der Geschichte des Surrealismus. Er war zugleich, wie der bekannte Verhaltensforscher („Der nackte Affe“) und – weniger bekannte – surrealistische Künstler Desmond Morris in seinem höchst unterhaltsamen Buch Das Leben der Surrealisten schrieb, „ein aufgeblasener Langweiler, ein skrupelloser Diktator, ein überzeugter Sexist, ein extremer Schwulenhasser und ein verschlagener Pharisäer.“[1]
Nach seinem Rauswurf gründete Prévert mit seinem jüngeren Bruder Pierre, mit Tanguy, Queneau, Marcel Duchamp und anderen seinen eigenen Kreis, der sich weiterhin wie Bretons Zirkel in der Rue du Chateau nahe dem Gare Montparnasse traf, im ehemaligen Laden eines Hasenfellhändlers.
Elegant gekleidet, die Zigarette im Mundwinkel, so kannte man Prévert, der gern in die Bistros und Bars der Stadt ging, um mit den Leuten zu plaudern. Mit seinen Freunden genoss er in der Rue du Château das Bohemiendasein: Man hörte Jazz und las Groschenhefte oder diskutierte mit Queneau und Leiris. Picasso kam vorbei, Man Ray fotografierte und Georges Bataille hielt lautstarke Reden über sein Konzept des poetischen Raums. Währenddessen arbeitete Prévert an seinem Image als Bürgerschreck und verfasste 1932–36 kämpferische Stücke für die Laientheater-Gruppe groupe d’ottobre. Denn in diesen Jahren stand auch er, wie so viele Intellektuelle einer polarisierenden Zeit, den Kommunisten nahe. Doch das währte nicht lang, denn Prévert war vom Naturell her kein Typ für Parteidisziplin, sondern eher anarchistisch eingestellt. Er blieb sein Leben lang der linke Intellektuelle, dem Alltagsleben in seiner oft ironisch gebrochenen und lakonischen Sprache verbunden, und mit einem deutlichen Hang zum Existentialismus.
Schon seit geraumer Zeit schrieb er nebenher längere Gedichte, machte sich dann aber ab Mitte der 30er Jahre vor allem als Dramaturg und Drehbuchautor für die Filme seines Bruders und des wegweisenden Regisseurs Jean Renoir einen Namen, für den er 1935 Das Verbrechen des Herrn Lange (Le crime de Monsieur Lange) schrieb. Ganz besonders fruchtbringend indes waren seine Arbeiten für Marcel Carné, u. a. 1937 Ein sonderbarer Fall (Drôle de drame), 1938 Hafen im Nebel (Le quai de brumes), 1939 Der Tag bricht an (Le jour se lève), 1942 Die Nacht mit dem Teufel (Les visiteurs du soir) und natürlich 1944 Kinder des Olymp (Les Enfants du paradis). Damit wurde Prévert zum Mitbegründer des poetischen Realismus.
„Ich liebe Sie, Garance. Lieben Sie mich? – Sie reden wie ein Kind. Es wird in Büchern geliebt, in Träumen. – Die Träume, das Leben, aber das ist doch dasselbe!“ (Baptiste und Garance in „Die Kinder des Olymp“)
Wenn ich an Jacques Prévert denke, dann sehe ich vor mir alte Schwarz-Weiß-Fotos, die ihn zeigen, den Bohèmien und Dichter, nie ohne die unvermeidlichen Gouloises, deren legendäres himmelblaues Päckchen mit dem geflügelten Helm der Grafiker Marcel Jacno 1936 gestaltete. Nicht nur für Prévert war die Gauloise unverzichtbar beim Schreiben und Debattieren in Bistros und düsteren Kellerkneipen. Das galt auch für seine Zeitgenossen, die Existenzialisten Sartre und Camus, den Jazztrompeter und Schriftsteller Boris Vian, oder den Dramatiker, Zuhälter und ehemaligen Strichjungen Jean Genet, der bis 1942 fast die Hälfte seines Lebens im Gefängnis verbracht hatte. Lauter Typen, wie sie in jenen Jahren vielleicht nur Frankreich hatte hervorbringen können.
So, wie auch den Verfasser des Skripts der unsterblichen Kinder des Olymp, eines Films, den Carné, der Meister des Poetischen Realismus, zwischen 1943 und 1944 mitten im Krieg unter schwierigsten Bedingungen drehte. 1943, das war auch das Jahr, als Sartre Camus kennenlernte und sein erstes richtiges Bühnenstück uraufgeführt wurde. „Die Fliegen“ waren nur vordergründig ein in der Antike angesiedeltes Drama, über – wie Sartre später sagte – „die Freiheit, über meine absolute Freiheit, meine Freiheit als Mensch, und vor allem über die Freiheit der Franzosen angesichts der deutschen Besatzer.“[2]
Es grenzt an ein Wunder, dass die Produktion eines dreistündigen Films, argwöhnisch beäugt von den deutschen Besatzern und der Vichy-Regierung Marschall Pétains, überhaupt vollendet werden konnte. Ganz davon abgesehen, dass die deutsche Besatzungsmacht eigentlich nur Filmlängen von 90 Minuten erlaubte. Aber vielleicht ging der Film auch deshalb leichter durch die Zensur, weil der Stoff bekannt schien. Denn ein Starregisseur der NS-Zeit, Hans Steinhoff, hatte 1938 in Deutschland mit großem Erfolg das Leben des echten Jean Gaspard Deburau (1796-1846) mit Gustaf Gründgens in der Hauptrolle verfilmt hatte. Tanz auf dem Vulkan erzählte allerdings eine völlig andere, ebenfalls fiktive Geschichte, in der Deburau als Freiheitskämpfer und eine Revolution gegen den diktatorischen König Karl X. und für den späteren Bürgerkönig Louis Philippe anzettelte. Im Gedächtnis blieb vor allem das musikalische Leitmotiv des Films, der von Gründgens gesungene, ebenso provokante wie mitreißende Song Die Nacht ist nicht allein zum Schlafen da – es war ein echter Ohrwurm, dessen leicht subversiver Unterton im Propagandaministerium und auch bei Hitler selbst nicht gut ankam:
„Wenn der Morgen endlich graut / Durch die dunstgen Scheiben / Und die Männer ohne Braut beieinander bleiben / Schmieden sie im Flüsterton /Aus Gesprächen Bomben: Rebellion! Rebellion! / In den Katakomben.“
Steinhoff und Grundgens waren zu bekannt und auch zu beliebt, dennoch kam diese seltsame Gratwanderung nur mit starken Schnitten, die das Propagandaministerium verfügt hatte, im Dezember 1938 in die Kinos.[3]
Doch zurück zum Film von Carné und Prévert, der das Thema sowie völlig anders anging. Die Dreharbeiten standen unter keinem guten Stern. Schauspieler setzten sich ab, Geldgeber zogen sich zurück. Der ursprüngliche Darsteller des Clochards Jericho, im wirklichen Leben ein notorischer Judenhasser, floh kurz vor der Kapitulation, sodass die Szenen mit einem anderen Schauspieler nachgedreht werden mussten. Und alle ächzten sie unter der Knute des Perfektionisten Carné.
Zwischenzeitlich war das Projekt, das nicht in Paris, sondern weitgehend in Nizza gedreht wurde, monatelang völlig zum Stillstand gekommen. Denn der italienische Co-Produzent Scalera Film zog sich zurück, als nach dem Sturz Benito Mussolinis dessen Nachfolger Marschall Badoglio im September 1943 einen Waffenstillstand mit den Alliierten abgeschlossen hatte. Von da ab waren sämtliche italienisch-französischen Filmprojekte streng verboten. Dann erhielt auch noch der französische Produzent André Pauvé Arbeitsverbot, weil die NS-Besatzer entdeckten hatten, dass einer seiner entfernten Verwandten jüdischer Abstammung war. Quasi aus dem Untergrund entwarf der geniale Szenenbildner Alexandre Trauner (1906-1993) seine grandiosen Dekorationen. Der ungarische Jude war Ende der Zwanzigerjahre vor dem antisemitischen Horty-Regime nach Frankeich geflogen, wo er er sich mit Jacques Prévert anfreundete. Als die Nationalsozialisten Frankreich besetzten, hielt sich Trauner versteckt: Die Dekors für Kinder des Olymp gestaltete er unter einem Decknamen. Doch auch das war nicht ohne Risiko. Denn regelmäßig kamen Gestapo-Spitzel zu den Dreharbeiten, um Mitglieder der Résistance oder Juden aufzuspüren und zu verhaften. Ein Teil des Teams, allen voran Trauner und der ebenfalls jüdische Filmkomponist Joseph Kosma, die ihre Arbeit im Geheimen verrichten mussten, befand sich in ständiger Lebensgefahr.
Als Mitte 1944 die französische Produktionsfirma Pathé einstieg, war wenigstens die Finanzierung wieder gesichert. Doch als die Crew im Februar 1944 endlich nach Nizza zurückkehren konnte, um in den eigens für den Film errichteten gigantischen Kulissen die Außenaufnahmen zu drehen, mussten sie feststellen, dass ein Sturm die Dekorationen zerstört hatte. Um all die Häuser, die Bühnen und Straßen des historischen Paris des 19. Jahrhunderts nachzubauen, waren 35 Tonnen Gerüstwerk, 350 Tonnen Gips sowie 500 Quadratmeter Glas nötig gewesen. Diese Kinobauten hatten 68.000 Arbeitsstunden erfordert – mitten im Zweiten Weltkrieg eine Meisterleistung. Es war ein Fiasko!
Mit ständig knurrendem Magen, denn auch Essen war streng rationiert, und viel Pappmaché und Kreativität musste die Crew die monumentale Kulisse reparieren – und das unter Kriegsbedingungen, wo das Material notorisch knapp war. Das galt auch für die Kostüme, auch hier wurde einfach drauflos improvisiert, wie sich Pierre Brasseur, der den Fréderic Lemaître spielte, in einer Doku über den Film erinnert: „In diesem Film, der so prunkvoll wirkt, waren viele Kostüme aus Papier, und das Leder unserer Schuhsohlen war aus Holz. Deshalb mussten fast alle Dialoge nachsynchronisiert werden, denn es war so, als ob Holzpferdchen durchs Studio galoppierten.“ Immer wieder unterbrach Fliegeralarm die Dreharbeiten. Und weil der Strom rationiert war, konnte manchmal nur eine Stunde pro Tag gedreht werden.
Unter diesen widrigen Umständen entstand das größte Werk des französischen Films, eine Comédie humaine des 19. Jahrhunderts, in der sich der Schauspieler Fredéric Lemaître, der Patomime Baptiste Deburau und der anarchistische Verbrecher Lacenaire – alle drei vergeblich – um die geheimnisvolle Vorstadtkurtisane Garance bemühen.
Die Poesie der Wirklichkeit
Wie in den Filmen des Poetischen Realismus, so war auch im Leben Préverts alles mit allem verwoben. Manchmal kritzelte er Gedichte auf Kassenzettel und verteilte sie am Kneipentresen an Huren und Quartalssäufer. Die Texte kursierten in ganz Paris und hatten Kultstatus, vor allem ab 1941, als er begann, seine Gedichte im Radio Zone Sud, der nationalen Rundfunkanstalt des freien Frankreich, vorzutragen. Am nächsten Tag waren sie in aller Munde. So wie dieses:
Abertausend Jahre Zeit
Fassen nicht
Die kleine Sekunde Ewigkeit
Da du mich küsstest
Da ich dich küsste
Eines Morgens unterm Wintersonnenlicht
In einem Park zu Paris
Zu Paris
Auf dieser Erde
Die ein Stern ist.
Hätte man Prévert gefragt, wie er mit seiner geringen schulischen Bildung Dichter werden konnte, so wäre die Antwort wohl gewesen, dass er das nicht trotz, sondern wegen seiner Distanz zum Schulbetrieb geschafft hat. Wie Montaigne geißelte auch er die „Gefangenschaft“ des kindlichen Geistes in der Schule, der bloß den Launen eines übelwollenden Lehrers ausgeliefert ist und so seiner individuellen Strahlkräfte beraubt wird. Und meinte in einem Interview : „Oft wird von einem Kind in der Schule behauptet, es würde keine Fortschritte machen. In Wahrheit kann man das aber gar nicht wissen. Vielleicht macht es Fortschritte, nur in einer ganz anderen Richtung.“[4] Oder, wie es Jean-Paul Sartre einmal ausdrückte, indem er eine Idee der Stoiker aufgriff: Wir können zwar nicht wählen, was uns zustößt, wohl aber, was wir geistig draus machen.
Sein berühmtester (zweiter) Gedichtband blieb Paroles aus dem Jahre 1946. Als das Buch 1949 im Druck erschien, war der Erfolg enorm und machte Prévert zum Gesicht der französischen Lyrik, auf jeden Fall zum einflussreichsten französischen Lyriker der Jahrhundertmitte. Viele seiner Gedichte sind denn auch, meist von Joseph Kosma, zu Chansons vertont worden. Sein Liedtext Les feuilles mortes wurde von Juliette Gréco, von Yves Montand und vielen anderen gesungen. Unter dem Titel Autumn Leaves wurde der Song zum Jazzstandard.
We don’t need no education
Gleich drei seiner bekanntesten Gedichte[5] aus Paroles setzen sich mit der geistigen Unterdrückung in der Schule auseinander, vielleicht doch eine traumatische Erfahrung für Prévert. In Chasse à l’enfant (Kinderjagd) wird ein aus einer Erziehungsanstalt ausgebrochenes Kind wie ein „gehetztes Tier“ von der „Meute der anständigen Leute“ gejagt, die seinen Ausbruch in die Freiheit als Angriff auf die soziale Ordnung wahrnimmt und entsprechend sanktioniert.[6] Das Kind symbolisiert hier die im Alltag der bürgerlichen Gesellschaft unterdrückte geistige Freiheit, denn nie ist von „einem“, sondern nur von „dem“ Kind die Rede.[7]
Page d’écriture (Rechenaufgabe) findet die Voraussetzungen der intellektuellen Freiheit gerade in der Verweigerung der schematischen Wiederholungsübungen des Mathelehrers.
Deux et deux quatre
quatre et quatre huit
huit et huit font seize…
Répétez ! dit le maître
Deux et deux quatre
quatre et quatre huit
huit et huit font seize. …
Erst der „Vogel der Imagination“ bringt durch sein Singen die Wände des Klassenraums und damit die schulische Realität zum Einsturz, und das Gedicht endet mit den Worten:
Mais tous les autres enfants écoutent la musique et les murs de la classe s’écroulent tranquillement. Et les vitres redeviennent sable l’encre redevient eau les pupitres redeviennent arbres la craie redevient falaise le porte-plume redevient oiseau. |
Aber alle Kinder lauschen der Musik und die Wände der Klasse stürzen friedlich ein. Und die Glasscheiben werden wieder Sand die Tinte wieder Wasser die Pulte wieder Bäume die Kreide wird wieder Felsen der Federhalter wieder zum Vogel. |
Mit einem meiner Lieblingsgedichte (neben Préverts Pater noster und Pour toi mon amour), Le cancre, möchte ich diese kleine Erinnerung an Jacques Prévert abschließen. Hier wagt einer, der nicht gerade zu den Klassenbesten gehört, ein echter Loser, wie man vielleicht heute sagen würde, den Aufschrei gegen die Ungerechtigkeit, wobei auch hier die Poesie den Alltag besiegt. Aus dieser Perspektive besteht der erste Schritt zur individuellen Selbstbehauptung darin, sich gegen die Dressur des Geistes in der Schule zur Wehr zu setzen. Anders gesagt: Für Prévert ist geistige Freiheit dauerhaft nur möglich, wenn die Schule dem Geist nicht die Flügel stutzt, sondern Wege zu ihrer Entfaltung aufzeigt. Übrigens zeigen sich hier bereits einmal wieder die Grenzen jeder Übersetzung, denn das deutsche Geist, das englische Wort mind oder das französische esprit sind keineswegs deckungsgleich und haben in ihren Sprachen eigene Nuancen, der eine Übersetzung immer nur unvollkommen gerecht werden kann. Wer über esprit verfügt, ist geistreich nicht nur, weil er Klugheit und Bildung zeigt, sondern auch die Fähigkeit, gewissermaßen »um die Ecke zu denken«, das Gespräch durch phantasiereiche, nicht-alltägliche Ideen, durch verblüffende Vergleiche oder originelle Assoziationen zu bereichern. Esprit gedeiht im Café oder auch in der alltäglichen Konversation, der eher papierne Geist liebt – überspitzt gesagt – die Schriftform oder den Katheder.[6]
Le cancre
Il dit non avec la tête
Mais il dit oui avec le coeur
Il dit oui à ce qu’il aime
Il dit non au professeur
Il est debout
On le questionne
Et tous les problèmes sont posés
Soudain le fou rire le prend
Et il efface tout
Les chiffres et les mots
Les dates et les noms
Les phrases et les pièges
Et malgré les menaces du maître
Sous les huées des enfants prodiges
Avec des craies de toutes les couleurs
Sur le tableau noir du malheur
Il dessine le visage du bonheur.
Da ich den Kusenberg[8] nicht immer schätze, habe ich mich selbst an einer Nachdichtung versucht:
Der Versager
Er sagt Nein mit dem Kopf
Doch er sagt Ja mit dem Herzen
Er sagt Ja zu allem, das er liebt
Er sagt Nein zum Lehrer
Er steht starr
Wird streng geprüft
Und die Fragen prasseln auf ihn ein
Auf einmal packt ihn ein irres Lachen
Und er wischt alles weg
Die Zahlen und Worte
Die Daten und Namen
Die Floskeln und Fallstricke
Und trotz der Drohungen des Lehrers
Unter dem Gejohle der Musterschüler
Nimmt er von allen Kreidefarben ein Stück
Und auf der schwarzen Tafel des Unglücks
Entwirft er das Antlitz des Glücks.
Anmerkungen
[1] Desmond Morris: Das Leben der Surrealisten. Zürich: Unionsverlag 2018, S. 65
[2] Simone de Beauvoir: Gespräche mit Jean-Paul Sarte, zit. nach Sarah Blackwell: Das Café der Existenzialisten. München Beck 2016, S. 184
[3] Zum Film Tanz auf dem Vulkan vgl. Horst Claus: Filmen für Hitler. Die Karriere des NS-Starregisseurs Hans Steinhoff. Wien: verlag filmarchiv austria 2013, S. 397-404
[4] „Un enfant, (…) à l’école, on dit: il ne fait pas de progrès. Pourtant, on ne sait pas, on ne peut pas savoir s’il n’en fait pas, dans une direction différente.“ (Interview mit André Pozner. In: Prévert/Pozner: Hebdromadaires 1972, Paris: Gallimard 1982, S. 101)
[5] Alle drei stammen aus Préverts Gedichtband Paroles, der 1949 in Paris bei Gallimard erschien
[6] Das Gedicht beruht auf einer wahren Begebenheit. 1934 waren einige Insassen einer bretonischen Besserungsanstalt für Minderjährige nach ihrem Aufstand gegen die Gewalt der Wärter ausgebrochen. Auf die Ergreifung der Flüchtigen war damals eine Belohnung von je 20 Francs ausgesetzt worden.
[7] Prévert/Pozner, a.a.O., S. 86f
[8] Jacques Prévert Gedichte und Chansons. Nachdichtungen von Kurt Kusenberg. Reinbek b. Hamburg: rororo 1971 (2002)