Kein Stuhlgang nach dem Herrenmahl
Frank Zappa, der legendäre Gründer der US-Band Mothers of Invention, war zweifellos ein Genius des Rock. Doch auch, wenn sich seine vertrackte, oft hoch komplexe Kompositionstechnik manchmal am Jazz oder auch an der klassische Moderne, Edgar Varèse oder Igor Strawinsky, orientierte; auch wenn er Kafkas „In der Strafkolonie“ vertonte[1], oder mit Zubin Mechta, Pierre Boulez oder Kent Nagano zusammenspielte, so war er doch kein Gott, auch kein moderner, obwohl ihn manche dafür hielten. Leute, doch nicht im aufgeklärten 20. Jahrhundert! Ende der 60er Jahre hing für eine Weile auch in meinem Zimmer das Schwarz-Weiß-Poster von ihm, nackt auf dem Klo. Spätestens an den behaarten Beinen war zu erkennen – ein Mensch wie du und ich. Der auch mal muss.
Aber richtige Götter, mussten die etwa auch mal? Zwar fand man bereits in uralten Ruinen sumerischer Paläste Toilettenräume mit Wasserspülung. Ähnlich sauber ging es bei den alten Ägyptern und den Kretern zu. Die Römer hatten sogar eigens eine Schutzgöttin der Abzugskanäle und Kloaken, die Venus Cloacina. Ihr zu Ehren wurden Tempel gebaut, sie hatte ihren eigenen Schrein in Rom und man prägte sogar Münzen mit ihrem idealisierten Konterfei.
Resteverwerter war demgegenüber eine männliche Gottheit. Der Gott Stercutus war für alles zuständig, was mit Kot zusammenhing, also auch für die Düngung der Felder. Doch da die römischen, und wahrscheinlich auch die griechischen Götter genüsslich Speis und Trank zusprachen, nach Lust und Laune herumhurten und viele menschliche Züge trugen, so dürfte es für Römer und Griechen wohl kaum unvorstellbar gewesen sein, dass die verehrten Gottheiten auch mal ihre Notdurft verrichteten. Schließlich machten sie das ja auch – und zwar in aller Öffentlichkeiten. Eine römische Toiletten fasste manchmal bis zu 50 Personen, die ohne Trennwände nebeneinander saßen und plauderten. Warum sollten es also die Götter anders halten?
In Pompeji und Herculaneum hat man viele Latrinen direkt am Hauseingang und dort gern neben dem Küchentisch entdeckt. Wenn die alten Römer ihr Geschäftchen verrichteten, waren sie dabei anscheinend wesentlich weniger verklemmt, als so mancher woke Zeitgenosse heutzutage. Auch bei uns ging es noch im Mittelalter wesentlich freizüger zu. Man lese nur Norbert Elias‘ Über den Prozess der Zivilisation. Für einen Römer war es halt praktischer, das Abwasser der Küche direkt in die Latrine zu gießen. Und vermutlich auch angenehmer, ein bisschen mit den Küchenmägden zu schäkern, wenn man eh eine gewisse Zeit auf dem Örtchen zubrachte, das eben damals noch gar nicht still war. Natürlich war das purer Luxus, denn private Klos waren teuer. Wer in einer Insula, also in einem Mietshaus wohnte, der hatte keine Toilette und kippte nachts seine Kloschüssel einfach aus dem Fenster. Man konnte auch in öffentlich an den Straßen stehende Eimer pinkeln, die die Gerber dort aufstellten, weil sie den Urin für ihre Arbeit brauchten. Aber allein die Stadt Rom unterhielt immerhin 144 öffentlichen Toiletten für das einfachere Volk, die Sklaven selbstverständlich ausgenommen.
Doch dann kam das Christentum auf. Und da wurde es so richtig kompliziert. Sicher, man hat, von den Asketen mal abgesehen, weiterhin in Gesellschaft gern gegessen und getrunken, und manche Tischgenossen waren nicht mal ganz koscher. Das gilt auch für Jesus – gerade auch für ihn. Denn es gibt es nicht nur den Bericht über das letzte Abendmahl. In den Evangelien finden wir zahlreiche Geschichten, in denen Jesus beim Essen und Trinken beschrieben wird, ist doch schließlich das gemeinsame Mahl ein wichtiges Ritual des jüdischen Glaubens. Noch der Auferstandene isst und trinkt gemeinsam mit seinen Jüngern, als sei es das Normalste von der Welt. (Lk,24; Joh 21)
Aber verdaute er auch? Was für heutige Christen schon beinahe blasphemisch klingen mag, wurde im Frühchristentum ernsthaft diskutiert. Die Anhänger des Gnostikers Valentinus z. B. hatten sehr feste Vorstellungen über die Einheit von Gott und Mensch in Jesus. Soweit es überliefert ist, muss man vorsichtig sagen. Denn da kommt im wesentlichen der Kirchenvater Clemens von Alexandrien ins Spiel. Er hat neun vergleichsweise kurze Fragmente des Valentinus überliefert. Unter den Blinden ist halt der Einäugige König, denn schon Irenäus, Tertullian oder Origines kannten keine Originaltexte dieses – sagen wir mal: – Sektenführers mehr.[2] Eines ist wirklich interessant:
„Valentinus sagt aber in dem Brief an Agathopus: »Während er alles ertrug, war er enthaltsam: Jesus verwirklichte seine Gottheit, er aß und trank auf eigentümliche Weise, weil er die Speisen nicht ausschied. So groß war die Kraft seiner Enthaltsamkeit, daß die Nahrung in ihm auch nicht aufgelöst wurde, weil er keine Auflösung hatte.«“[3]
Das Zauberwort, auf das es hier ankommt, ist die Enkrateia, die selbstbestimmte Enthaltsamkeit. Darin steckt κράτος (krátos, Macht), die Macht über die eigenen Leidenschaften und Instinkte.
Als Enkratiten hat man seit dem zweiten Jahrhundert Christen bezeichnet, die wegen übertriebener Askese als Häretiker verdächtigt wurden. Laut Irenäus von Lyon forderten sie von allen Christen die Ehelosigkeit.[4] Die ersten fünf großen Apostelakten des 2./3. Jahrhunderts gehen auf die Enkratiten zurück: Andreasakten (ActAndr), Johannesakten (ActJoh), Paulusakten (ActPaul), Petrusakten (ActPetr), Thomasakten (ActThom). Es heißt, sie wurden im 4. Jh. von den Anhängern von Mani (216-276/77) gesammelt, überarbeitet und zu einem Kodex zusammengestellt. Allein, der manichäische »Fünferkodex« existiert nicht mehr. Wohl aber gibt es verschiedene Textüberlieferung der einzelnen Apostelakten. Wenn man heute Rekonstruktionen davon liest, sollte man sich aber im klar machen, dass diese stets auf vielfältige Handschriften(fragmente) zurückgehen, die u.a. auch die gnostischen und manichäischen Bearbeitungen enthalten. Ein Thema zieht sich übrigens hier durch: die sexuelle Enthaltsamkeit. Das ist einer der Hauptgründe, warum die Akten traditionell den Enkratiten zugeordnet werden.
Nebenbei: Nichts ist so abwegig, als dass es nicht als Farce wieder fröhliche Urständ feinern könnte. So überschrieb am 27. Januar 2014 die Süddeutsche einen Artikel über die „NoFap“-Community in den USA: „Keine Pornos, keine Masturbation: Im Netz organisieren sich Zehntausende junger Männer, die durch ihre Abstinenz bessere Partner werden wollen – und ‚Superkräfte‘ an sich entdecken“.
Doch zurück zu den antiken Superkräften. Für Clemens ist dieses Valentinus-Fragment nur der Aufhänger für eine sehr ausführlichen Diskussion über das rechte Verständnis der Enkrateia, wörtlich: über den λόγος περί έγκρατέιας (den Logos, die Ursache der Unverweslichkeit oder auch Unvergleichbarkeit)[5]. Sieht man mal von ein paar längeren Exkursen ab, so handelt das ganze dritte Buch seines Hauptwerks Teppiche (Stromateis) von nichts anderem. Unter Enthaltsamkeit versteht er »σώματος ύπεροψία κατά την προς θεόν ομολογίαν« (Hypersensibilität des Körpers, nach dem Bekenntnis Gottes).[6] Dabei geht er in längeren Ausführungen den „falschen“ Ansichten verschiedener (auch gnostischer) Sekten nach: Wer sich bloß von seinen Leidenschaften leiten lasse, der gelange nie zu wirklichem »γνώσις θεού« (Wissen von Gott). Doch könne man es mit der Enkrateia durch die generelle Enthaltsamkeit von Ehe und Kinderzeugen[7] auch übertreiben, oder auch durch asketisches Hungerleiden, was bloß den Schöpfer beleidigen würde. Um die Legitimation des falschen Enkratismus durch Berufung auf Christus und die Apostel zu widerlegen, führt Clemens, na was wohl? – biblische Belege an: Haben nicht Matthäus und Lukas selbst gegen die Verachtung des Essens argumentiert, als sie Jesu als „Fresser und Weinsäufer“ (Mt 11,19; Lk 7,34) bezeichneten.
Aber, und jetzt kommt‘s: Jesus hat, schreibt er an anderer Stelle, natürlich bloß gegessen und getrunken, um diejenigen zu widerlegen, die meinen, „er sei nur zum Schein offenbart worden“ (Str VI, 71.2). Als Gott wusste er, dass irgendwann der Doketismus (von griechisch δοκεῖν – dokein = scheinen) aufkommen würde und dessen Vertreter behaupten würden, dass er während seines Lebens auf Erden keinen wirklichen, keinen natürlichen, sondern nur einen Scheinkörper gehabt habe. Als Gott verfügte er schließlich über die Fähigkeit der Präkognition.
Nötig wäre die ganze Völlerei beim Gottessohn demnach überhaupt nicht gewesen. Denn genau das war ja die eigentliche Pointe Valentins: Wer nicht verdaut, braucht eigentlich auch keine Nahrung, weil seine Existenz vom Essen gar nicht abhängt. Seinen Körper erhielt einzig und allein eine „heilige Kraft“. Clemens zitierte also Valentinus nicht wie die anderen Gnostiker (und grenzt ihn selbst von seinen Anhängern, den Valentinianern ab), um dessen falsche Auffassung von Enkrateia zu widerlegen. Nein, er greift das auf, um in einer Art Neuansatz der Argumentation (Str. III 59,1) die Bedeutung der wahren christlichen Enkrateia darzulegen und diese Haltung auf Christus selbst zurückzuführen.
Der Theologe Christoph Markschies hat auch noch andere Belege dafür gefunden, dass die Verdauung Christi im 2. Jahrhundert unter den Gelehrten debattiert wurde. Valentinus‘ Zeitgenosse, der »Erzketzer« Marcion, der etwa um dieselbe Zeit wie er in Rom weilte, scheint das Verdauungsproblem anders angegangen zu sein. Sowohl Tertullian[8] als auch später ein syrischer Asket und Kirchenlehrer, der hl. Ephraem, waren der Ansicht, dass Marcion das Problem der Leiblichkeit Christi durch den Verweis auf die Leiblichkeit der Engel bei ihren Erscheinungen löste und insbesondere auf den Besuch der drei Engel bei Abraham verwies. Denn auch hier geht es um das Problem des Essens bei göttlichen Persönlichkeiten, wie der biblische Text der Genesis[9] und Ephraem durch expliziten Verweis auf das Essen der Engel deutlich machen.[10]
Zwar berichtet die Septuaginta, dass die drei Besucher Abrahams in Mamre Butter, Milch und das kleine Kalb, die ihr Gastgeber ihnen auftischt, anstandslos aßen. Aber sie aßen eben nicht wirklich, weil himmlische Wesen so etwas selbstverständlich nicht tun. Und auch Christus isst zwar real und für jeden sichtbar, aber seine Ernährung ist irgendwie doch anders, hat eine besondere Qualität, da das Essen nicht verdaut wird. Was Tertullian nicht davon abhielt, Marcions Ansicht über die Engel bei Abraham (und damit auch über Christus) zu verwerfen: „und doch ist es wahr, dass sie sich beide trafen und aßen“. Der Häretiker Marcion würde aus ihnen jedoch „Phantasmen mit Scheinleib” machen. Dabei habe Jesus wirklich gegessen und nicht von Nektar und Ambrosia gelebt. So eine Deutung ist durchaus alttestamentarisch gedacht, wird doch schon in Psalm 50,13 Gott mit den Worten zitiert: „Esse ich etwa Fleisch von Stieren? Trinke ich denn Blut von Böcken?” Eine Opferpraxis, die schon den Spötter Lukian im 2. Jahrhundert zu der absurden Schlussfolgerung inspirierte, wenn die Opfer wegfielen, müßten die Götter wohl hungern, weil sie sich bloß „kümmerlich von Opfersteuern nähren” könnten.
Markschies hat sich gefragt, ob man das Fragment Valentins nicht mal probeweise vor diesem Hintergrund lesen könnte, obwohl das mangels genauer Informationen zu Marcions Lehre erstmal rein spekulativ wäre. Man könnte sich also fragen, ob Valentin hier einfach nur an einem Problem, das auch Marcion beschäftigte, kreativ weitergedacht hat. Genauso gut wäre es natürlich auch möglich, dass sich Valentin mit seiner Position, Jesus habe nicht verdaut, was er aß, explizit gegen eine diesbezügliche Auffassung Marcions gewendet hat. Allein, man weiß es nicht.
Doch wie dem auch sei, Valentins Position scheint jedenfalls noch weit weg vom anonymen Schmähgedicht Carmen adversus Marcionitas entfernt gewesen zu sein, fünf Bücher der Spätantike in 1302 Hexametern, die sich gegen die Häresie der Marcioniten wendeten.[11] War Marcion, zumindest laut dem Historiker Harnack, der Auffassung, dass der Weltschöpfer „den Menschen schwach, hilflos und sterblich geschaffen und seine Verführung zugelassen hat“[12], so imaginierte das Carmen daraus gleich eine ganze Jesusgeschichte, die sie dem Marcion andichtete. Hier mal in Prosa:
„Ein Engel brachte diese Aufträge des Vaters durch die leuchtenden Sterne herab zur Erde, damit die Verkündigungen aufgrund der Herrlichkeit des Engels Glauben fänden, daß eine Jungfrau die Schuld einer Jungfrau, das Fleisch die des Fleisches sühne. Gemäß solchen Bestimmungen einherschreitend, folgte Jesus Christus den Spuren des Todes, als winziger Säugling bereits unermeßlich groß, als Knabe älter und reifer, als man es von seinem Alter her hätte erwarten können, und als Jüngling ein Mann. Später, als das rechte Alter der Manneskraft vollendet worden war (wobei er sich allmählich daran gewöhnen mußte zu altern, obgleich ihm die göttliche Lebenskraft zugesellt war, und sich in seiner äußeren Erscheinung in scheußliche Runzeln und schwerfällige Glieder zu verwandeln, wobei das Blut aus den Adern wich), da hielt er auf seinem Lebensweg inne und ließ nicht zu, daß seine leibliche Erscheinung altere. An dem Tag und an dem Ort, an welchem der überaus berühmte erste Adam fiel und an dem er verblendet die Hand ausstreckte, um das Holz zu berühren, als dieser selbe Tag im Lauf der vergehenden Jahre wiederkehrte, trat der tapfere Athlet auf der Kampfbahn des Holzes an und streckte die Hände aus, erlangte die Strafe zu seinem Ruhm und besiegte den Tod vollständig, da er ja das Leben freiwillig verließ. (166) Er streifte die Hüllen des Fleisches und die Hypotheken des Todes ab; und nachdem er den bösen Fürsten dieser Welt besiegt hatte, heftete er die abgezogene Haut der besiegten Schlange an das Holz des Kreuzes, das gewaltige Siegeszeichen über die Abtrünnigen.“[13]
Die Engel, die nach Valentins erstem Fragment den Menschen schufen[14], scheinen so unwissend gewesen zu sein wie der Schöpfergott bei Marcion. Wenigstens eine Gemeinsamkeit beim Tappen im Dunkel der Geschichte.
Anmerkungen
[1] Unter dem Titel „The Chrome Plated Megaphone of Destiny” auf der ebenso sarkastischen wie perfekten Persiflage des berühmten Beatles-Albums St. Pepper namens We’re only in it for the money, dem dritten Album der Mothers of Invention.
[2] Zur Überlieferungssituation vgl. Christoph Markschies: Das antike Christentum – Frömmigkeit, Lebensformen, München: Beck 1992, 2. überarb. Aufl., die Bemerkungen zur allgemeinen Überlieferungssituation der Fragmente Valentins in Kap. 9.1, S. 260-264
[3] Fragment Nr. 3, in: Clem. Alex., Stromateis III 59,3
[4] Irenäus, Adversus haereses I 28,1
[5] Strom III, 22.1
[6] Strom. III, 2.1
[7] Strom. III 21,3
[8] Tertullian: Adversus Marcionem III 9,1
[9] „Dann nahm Abraham Butter, Milch und das Kalb, das er hatte zubereiten lassen, und setzte es ihnen vor. Er wartete ihnen unter dem Baum auf, während sie aßen.“ (Gen 18,8)
[10] Ephraem, Comm. in Evv. conc. 21 zu Lk 23,45f.
[11] Erstmals herausgegeben 1564 von Georg Fabricius. Neuedition von Karla Pollmann: Das Carmen adversus Marcionitas : Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht 1991
[12] Adolf von Harnack: Marcion das Evangelium vom fremden Gott, eine Monographie zur Geschichte der Grundlegung der katholischen Kirche. Leipzig 1921, S. 141
[13] Pollmann, a.a.O., S. 79
[14] Strom. II, 36, 2-4