Diskussion,  Geschichte,  Theologie

Galiläa auf dem Ölberg

Es geht im folgenden um ein Problem, das heute nur noch gelegentlich Theologen, die genau hinsehen, irritiert: Warum bestellt der auferstandene Jesus seine Jünger, zunächst durch den Engel am leeren Grab und dann – entgegen der Vorhersage – auch noch höchstselbst (Mt. 28,9) ausgerechnet nach Galiläa?
Das ist doch nicht mal so einfach um die Ecke, sondern mehr als 100 km entfernt, der gebirgige Teil sogar noch weiter. Per pedes also in der kurzen Zeit für die Jünger eigentlich gar nicht zu erreichen! Und woher wissen sie genau, wohin sie gehen sollen? Welcher Berg gemeint ist? Dazu hatte im Jahre 1729 ein damals bekannter Mann eine geniale Idee.

Denn Jean Hardouin, einer der berühmtesten Gelehrten des 17./18. Jahrhunderts, hatte sich kurz vor seinem Tod Gedanken darüber gemacht. Aber wer kennt heute noch Jean Hardouin? Oder vielleicht müsste man eher fragen, warum kennt man ihn nicht mehr?

Seine Biographie[1] zumindest wies alle zeittypischen Merkmale überdurchschnittlichen Erfolgs auf. Nach seinen Studien und der Probation wurde der Jesuit Leiter des Kurses für positive Theologie am Pariser Collège Louis-le-Grand von 1683 bis 1718 und anschließend dessen Bibliothekar bis zu seinem Tod 1729. Sein philologisches Meisterstück legte er 1685 mit seiner fünfbändigen Ausgabe von Plinius’ Historia naturalis vor. Gerade mal fünf Jahre benötigte er für dieses epochale Werk, für das andere Gelehrte vermutlich 10 mal soviele Jahre und mehr gebraucht hätten, und das noch vierzig Jahre später in zweiter Auflage erschien und im 18. Jahrhundert als Referenztext für diese Enzyklopädie galt.[2] Doch nicht nur durch seine gewissenhafte Plinius-Ausgabe, auch als leidenschaftlicher Numismatiker galt Jean Hardouin unter seinesgleichen als einer der brillantesten Gelehrten seiner Zeit.

Zwischen 1687 und 1704 erstellte Hardouin, beauftragt von der Assemblée du clergé de France und finanziert aus der königlichen Kasse, eine Edition sämtlicher Konzilsakten, die ebenfalls Maßstäbe setzt.[3] Veröffentlicht wurde sie 1714-15 in der imposanten Form von elf Folianten mit einem Umfang von fast 22.000 Seiten. Dass sich die Herausgabe so stark verzögerte und diese erst nach Jahren in den Verkauf gelangte, lag an den scharfen öffentlichen Kontroversen zwischen den Konfessionen, bei denen sich Hardouin unmissverständlich auf die Seite Roms stellte. Daraufhin verbot das Parlement (Gericht) von Paris die Verbreitung des Werkes. Erst 10 Jahre später konnten die Konzilsakten veröffentlicht werden.

Als Kritiker war Hardouin ein engagierter Moderner, der sein Werk nach neusten Methoden der Philologie erstellte. Statt, wie seit Jahrhunderten üblich, Kommentar auf Kommentar zu häufen, bis der zu explizierende Text fast aus dem Blickfeld verschwand, beschnitt Hardouin rücksichtslos den überflüssigen Apparat, den frühere Herausgeber bewahrt hatten.

Beinahe zahllose weitere Arbeiten auf Latein oder Französisch, ganz zu schweigen von einer Fülle bis dato unveröffentlichter Manuskripte, zeugen von Hardouins schier übermenschlicher Produktivität. Nur ein kleiner Teil seiner Arbeiten ist in einem 1709 publizierten Band von Opera selecta[4] versammelt – einem Folioband von annähernd tausend Seiten, in dem, neben dogmatischen und kontroverstheologischen Studien, ausführliche chronologische sowie numismatische Abhandlungen die Bandbreite von Hardouins philologisch-antiquarischen Forschungen belegen. Mit einer lateinischsprachigen Chronik des Alten Testaments mischte er sich ebenso in die zeitgenössische Diskussion ein wie 1716 mit einer französischen Monographie zu Homers Ilias und zur Charakteristik der homerischen Götterwelt[5]. Postum folgen zwei weitere gewichtige Foliobände mit Opera varia[6] und einem Kommentar zum Neuen Testament.[7] Unzählige kleinere und umfangreichere Beiträge, nicht zuletzt in dem von ihm auch mitredigierten Hausorgan des gelehrten französischen Jesuitentums, dem Journal de Trévoux[8], zeugen ebenso von außerordentlicher Belesenheit und breitgestreuten Interessen wie von einem hohen Maß an Vertrautheit mit den historischen und zeitgenössischen Themen der Gelehrtenwelt, in der er zeitlebens aufgrund seines stupenden Wissens zwar oft umstritten, aber dennoch hochgeachtet war.[9] „Er konnte sich mit Recht rühmen, das ‚Land des Altertums‘ in allen Richtungen bereist zu haben (Brief zur Verteidigung des Heiligen Chrysostomus). Selbst Spötter können sich einer gewissen Bewunderung für den Scharfsinn und die extreme philologische Präzision, mit denen er seine Thesen untermauert, nicht entziehen.“[10]

Hardouin begann zu einem Zeitpunkt zu schreiben, als der Skeptizismus in der Pariser Gelehrtengemeinschaft neue Höhen erreichte. Er beteiligte sich an einem relativ weit verbreiteten intellektuellen Unterfangen der Jahrhundertwende, nämlich dem Streben nach philosophischer und historischer Gewissheit inmitten dessen, was der französische Historiker Paul Hazard als „Krise des europäischen Geistes“ bezeichnet hat.[11] Hardouin nahm die Herausforderung des Skeptizismus ernst und widmete sich sowohl der Aneignung als auch der Reaktion darauf zur Verteidigung der Kirche – gut gerüstet mit dem damals modernsten philologischen Methodenarsenal, dass er ausgezeichnet einzusetzen wusste. Er war zeitlebens gut vernetzt, korrespondierte mit Freunden in ganz Europa und erreichte ein großes Publikum, indem er für die neuen französischsprachigen wissenschaftlichen Zeitschriften schrieb.

Wäre das alles gewesen, so hätten wir es mit einer vielleicht nicht einzigartigen, aber doch immerhin höchst bemerkenswerten Gelehrtenexistenz am Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert zu tun; mit einem Polyhistor von Staunen erregender Vielfalt der Kenntnisse und Interessen und einer über Jahrzehnte andauernden schier überbordenden Produktivität, den man mit Blick auf die Forschungsgebiete und deren methodische Erschließung in der Avantgarde der antiquarisch-philologischen Forschung der Zeit verorten muss. Es gibt da allerdings noch ein paar weitere und um vieles spektakulärere Seiten in diesem „schier unermesslichen Papieroutput“.[12] Denn Hardouin war ebenso berühmt wie berüchtigt, weil er Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg ging und oft polarisierte. Er schien überhaupt kein Problem damit zu haben, seine Ansichten auch dann zu vertreten, wenn kaum jemand sie zu teilen oder vielleicht auch nur nachzuvollziehen imstande war. Ja, er war sogar stolz darauf!

Wie! Glauben Sie etwa, ich wäre mein ganzes Leben lang morgens um vier Uhr aufgestanden“, soll er entgegnet haben, als ihn ein Ordensbruder auf das ihm zugetragene Missfallen angesichts seiner spektakulären Thesen ansprach, „um nur zu sagen, was andere bereits vor mir gesagt haben?“ [13]

Und damit war es ihm Ernst! Denn folgt man der in seinen berüchtigten Prolegomena zugespitzten Darstellung, so war es ihm gelungen, ein beispielloses Komplott aufzudecken, dass sich zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert abgespielt haben soll: einer großangelegten Fälschung nahezu aller uns bekannten Schriften der sog. Antike, einschließlich vieler Kirchenväter. Nun war zwar der radikale Zweifel an antiken Schriften, auch denen etwa des Kirchenvaters Augustinus, durchaus noch im Rahmen der konfessionellen Auseinandersetzungen im 17. Jahrhundert. [14] Was Hardouins radikalen Ansatz in den Augen der Wissenschaftshistoriker indes davon unterschied und ihm den Verdacht einer „monströsen“ Verschwörungstheorie („système Hardouin“, „l’Hardouinisme“) eintrug, waren vor allem zwei Elemente:

Erstens richteten sich seine Mutmaßungen „nicht gegen den Gebrauch, also die strittigen Rezeptionsgepflogenheiten im Umgang mit der patristischen Autorität, sondern gegen diese selbst.[15] Und zweitens reichte es ihm nicht aus, nur die Autorität des Kirchenvaters Augustinus zu demontieren. Er wollte vielmehr den Nachweis führen,

„dass alle für antik gehaltenen Schriften – mit Ausnahmen der Bücher, die von der Kirche als heilig und kanonisch angesehen werden, und sechs profanen Autoren, vier lateinischen und zwei griechischen – von einer verbrecherischen Clique angefertigt und den Textzeugen, auf die sie sich beziehen, untergeschoben wurden.[16]

„Diesen ‚Verdacht gegen die Überlieferung‘ kann man deshalb durchaus als – wenn auch reichlich spitzfindigen – Versuch sehen, dem Subversionspotential der philologischen Bibelkritik die Grundlage zu entziehen.[17] Hardouin versuchte „gleichermaßen, die zeitgenössischen Vertreter sowie die philosophische Symptomatik der (Krypto-)Häresie zu entlarven[18] und deren jeweiliges überlieferungsgestütztes Legitimationssystem außer Kraft zu setzen.“ [19]

Eine solche Radikalkritik bedurfte allerdings eines tragfähigen Fundaments, um nicht Gefahr zu laufen, sich selbst dem Zweifel auszusetzen. Hier nahm Hardouin den Standpunkt der katholischen Orthodoxie ein: Der wahre Glaube gründet allein und felsenfest in der traditio viva der Kirche. Auch dann, wenn es keinen schriftlichen Kanon, keine traditio scripta gäbe, so fände sich diese lebendige Tradition in der Messe, den Sakramenten und der apostolischen Nachfolge: „superest una traditio non scripta, sed vivæ vocis“.[20]

In seinem 2017 erschienenen Buch über das philologisch-antiquarische Wissen im frühen 18. Jahrhundert weist Stephan Kammer allerdings darauf hin: „Mit dem geläufigen Gegensatz von ‚Schriftlichkeit‘ und ‚Mündlichkeit‘, wie er in neueren Debatten zu den Kulturtechniken der Überlieferung seine Verwendung findet, wird man diese Opposition allerdings nicht verwechseln dürfen.[21] Denn als gewissenhafter Philologe wusste Hardouin sehr wohl, dass der Skeptizismus ein zweischneidiges Schwert war, doch er verstand es meisterhaft, dieses sicher zu führen. Wie viele Historiker der damaligen Zeit versuchte er, den Herausforderungen des Skeptizismus zu begegnen, indem er sein historisches Wissen auf Quellen außerhalb des traditionellen Kanons der klassischen Texte gründete. Deshalb hielt er eine antiquarische Prüfung und Beweisführung keineswegs für überflüssig, denn auch für ihn galt die zeitgenössische skeptische Maxime, dass jegliche Überlieferung durch Handschriften oder Bücher auf Pergament oder Papier immer unter dem Verdacht der Korrumpierbarkeit stand, galt sie doch als anfällig für Fälschung, Verstümmelung und Entstellung.

Ein Musterbeispiel seines kritischen Ansatzes war seine Chronologia Veteris Testamenti (Chronologie des Alten Testaments, 1697). Wie viele seiner Zeitgenossen nahm er die Schöpfungsgeschichte wörtlich und versuchte sogar, mithilfe numismatischer Forschungsergebnisse und durch wörtliche Lektüre des lateinischen Textes der Vulgata die korrekte Abfolge der Ereignisse des Alten Testaments abzuleiten. Dabei stellte er fest, dass viele der Texte, auf die sich frühere Historiker bei ihren Konstruktionen der Vergangenheit gestützt hatten, seinen „Lackmus-Test der Legitimität“ (Watkins) nicht bestanden. Demnach konnte ein Text nicht plausibel sein, wenn er weder durch Belege aus dem Originalmaterial gestützt werden konnte, noch bei wörtlicher Lesung in sich konsistent blieb. Nur sehr wenige historische Texte hielten seinen strengen Kritikmaßstäben stand, und daher konnten ihre Inhalte nicht als zuverlässig angesehen werden.

Die Gründlichkeit und Kompromisslosigkeit dieses außergewöhnlichen Jesuiten rief nicht nur seine konfessionellen Gegner auf den Plan, die sich in zahlreichen z.T. sehr umfangreichen Gegenkritiken eloquent und fachlich versiert bemühten, seine Argumente zu entkräften oder ihm Fehler nachzuweisen. Da er selbstbewusst und unerschrocken war und die Teilhabe an zeitgenössischen Disputen seine Forschungstätigkeit eher noch beflügelte[22], geriet Hardouin auch im eigenen Orden zwischen die Fronten. Zwar hatte man ihn lange Zeit als überragenden Gelehrten nach Kräften gefördert, doch erkannten die Oberen der Jesuitenprovinz Frankreichs die Gefahr, dass einer der ihren die Gültigkeit von Schriften in Frage stellen könnte, die weithin als authentisch und autoritativ anerkannt waren. So „degradierte“ man Hardouin 1691 vom Professor für Schrift zum Bibliothekar am Collège Louis-le-Grand, was allerdings seiner Produktivität keinen Abbruch tat.[23] Er machte sich mächtige Feinde, als er z.B. selbst den katholischen Erzbischof von Cambray, Francois de Fénelon, 1697 in einem Brief der Häresie bezichtigte.[24]

Besonders in einer Zeit, in der die Jesuiten auch von Seiten des Staates großem Druck ausgesetzt waren, mochte man sich keinen Provokateur in den eigenen Reihen leisten. Hardouin wurde gezwungen, seine Ansichten öffentlich zu widerrufen , was er auch halbherzig tat.

Die Führung der Gesellschaft Jesu sah sich in Zugzwang, denn 1707 hatte der Bibliothekar des preußischen Königs, der Benediktiner Mathurin Veyssière de La Croze eine Kritik der von ihm attestierten Verschwörungstheorie Hardouins veröffentlicht, die er als „systême le plus monstrueux & le plus chimerique que l’esprit de l’homme soit capable de produire“ bezeichnete.[25] Im Grunde lancierte La Croze hier – übrigens sehr erfolgreich – selbst eine eigene „Verschwörungstheorie gegen einen Verschwörungstheoretiker“.[26] Denn sein verschwörungstheoretischer Coup wollte im ‚System Hardouin‘ „genau diejenigen Strategien entlarven, mit denen sich die Jesuiten ihre eigene Version der Kirchengeschichte zurechtgebastelt haben“.[27]

Die Nachbeben dieser beiden Schriften sind noch bis ins 20. Jahrhundert zu spüren, denn im Laufe der Zeit wurde Hardouin immer weniger gelesen, dafür aber umso mehr als Verrückter, Paranoiker und extremer Verschwörungstheoretiker gebrandmarkt, dessen stupendes Wissen gepaart mit einem grenzenlosen Skeptizismus zu einem hermetischen Wahngebilde geführt habe, dem er selbst nicht mehr entrinnen konnte und mit dem man sich deshalb nicht beschäftigen müsse – außer als mahnendes Beispiel für eine fehlgeleitete Forschung.[28]

Dabei könnte nichts falscher sein, als Hardouin leichtfertig als durchgeknallten Außenseiter hinzustellen, der sich selbst ins Abseits manövriert hatte und daher nicht ernst zu nehmen sei. Denn noch der greise Hardouin hatte sich seine analytischen Fähigkeiten und seinen wachen Verstand bewahrt, wie man an einem Artikel vom Mai 1729 sehen kann, den ich zufällig im Journal de Trévoux (Okt 1729) fand.

Dieser Artikel  über das  „Erscheinen des Erlösers in Galiläa“ ist erst nach seinem Tod erschienen. Hardouins Werk ist voller genialer Vermutungen, wie der folgenden, die völlig in Vergessenheit geraten ist. Aber beginnen wir mit dem Kenntnisstand der heutigen Theologie, wie man ihn zum Beispiel bei dem katholischen Theologen Heinz Giesen findet:

„Von besonderer Bedeutung aber ist die Begegnung der Jünger mit dem auferstandenen Herrn auf dem Berg in Galiläa (Mt 28,16), zumal dies der Schlüsseltext des ganzen Evangeliums ist. in dem sich wie in keinem anderen die Probleme des ganzen Buches in einem Brennpunkt bündeln. Die Adressaten des Evangeliums sind auf diese Szene gut vorbereitet. Wie in Mk 14,27f sagt Jesus auch in Mt 26,31 fast wortgleich den Jüngern voraus, daß er ihnen nach seiner Auferweckung nach Galiläa vorausgeht (Mt 26,32), um sie als Hirt zu sammeln, nachdem sie wie die Schafe der Herde (vgl. Sach 13,7) zerstreut worden sind (26.31). Gegenüber Mk 14.27 hat Mt die Schafe näher mit dem Genitiv »der Herde« bestimmt und damit die ekklesiale Dimension hervorgehoben. Da nach Lk anders als nach Mk/Mt die Ostererscheinungen nicht in Galiläa, sondern in Jerusalem stattfinden, wundert es nicht, daß wir dort keine Parallele zu unserem Text finden.

Am leeren Grab erinnert der Engel die Frauen an die Voraussage an die Jünger, daß der Auferweckte ihnen nach Galiläa vorausgehen werde, ohne sie – anders als Mk 16,7 – ausdrücklich als Erinnerung zu kennzeichnen. Der Engel bekräftigt vielmehr seine eigene Aussage mit den Worten: »Siehe, ich habe zu euch gesprochen« (Mt 28,7). Anders als nach Mk 16,8. wonach die Frauen aus Furcht ihre Botschaft nicht ausgerichtet haben, beeilen sich die Frauen nach Mt 28,8 voll Furcht und großer Freude, um sie den Jüngern auszurichten. Unterwegs begegnet ihnen der Auferweckte dann selbst. Nachdem sie vor ihm niedergefallen sind, fordert sie Jesus auf, sich nicht zu fürchten, sondern es seinen Brüdern zu melden, damit diese nach Galiläa gehen, um ihn dort zu sehen (28,9f). (…)

Es überrascht, daß es von den Jüngern, die auf die Nachricht der Frauen hin. nach Galiläa gehen, heißt, sie seien von Jesus auf den Berg bestellt worden (Mt 28,16). Denn vom Berg war in den Voraussagen nie die Rede. Das Bergmotiv ist dem Evangelisten allerdings sehr wichtig. Es kommt zuvor im Evangelium – wie gesehen – u.a. im Zusammenhang mit der Lehre Jesu (Bergpredigt: 5.1) und seiner Heilungstätigkeit (15,29-31), aber auch in der Verklärungsszene vor (Mt 17,1 par Mk 9,2; Lk 9,28). Das verdient zweifellos Beachtung. Der Berg hat deutlich herausragende christologische und offenbarungstheologische Bedeutung.“ [29]

Klar, sagt der Schalk in mir, was sonst! Christologisch und offenbarungstheologisch, einfacher ist es nicht zu haben. Es geht also hier um ein Problem, das heute nur noch gelegentlich Theologen, die genau hinsehen, irritiert: Warum bestellt Jesus seine Jünger, zunächst durch den Engel am leeren Grab und begibt sich dann – entgegen der Vorhersage – auch noch höchstselbst (Mt. 28,9) nach Galiläa? Das ist doch nicht mal so einfach um die Ecke, sondern mehr als 100 km entfernt, der gebirgige Teil sogar noch weiter. Per pedes also in der kurzen Zeit für die Jünger eigentlich gar nicht zu erreichen! Und woher wissen sie genau, wohin sie gehen sollen? Welcher Berg gemeint ist? Im besiedelten Talbereich gibt es mehrere Erhebungen, und im unwegsamen Bergland Galiläas erst recht.

Das fand bereits Jean Hardouin zu Beginn des Jahres 1729 (seinem Todesjahr) und fragte sich, ob wir da nicht etwas überlesen haben, dass die Widersprüche auflösen könnte. Es heißt doch in der Vulgata:

Undecim autem discipuli abierunt in Galilæam, in montem, ubi constituerat illis Jesus.
(Die elf Jünger aber gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte.)

Mt. 28,16

Wegen der bedeutungsreichen Verbform „constituerat“ nicht eindeutig, auch nicht hinsichtlich der Ortsbestimmung.

Und als die Apostel Jesus dort vorfinden, sind sie auch noch erst mal skeptisch:

Et videntes eum adoraverunt: quidam autem dubitaverunt.
(Und als sie ihn sahen, warfen sie sich vor ihm nieder, einige aber zweifelten.)

Mt. 28,17

Wie wäre es, fragte Hardouin, wenn man annehmen würde, mit „Galiläa“ sei gar nicht die römische Provinz, also ein ganzer Landstrich gemeint, mehr als zwei Tagesreisen entfernt, sondern ein Ort, vielleicht eine Herberge, auf einem der Gipfel des Ölbergs. Dann würden sich die Widersprüche bei Matthäus, aber auch zwischen den Evangelientexten lösen.

Natürlich blieb der Widerspruch gegen den Autor einer solchen These nicht aus. Hardouin, wurde damals wegen dieser Interpretation stark angefeindet, zumal er keine Belege dafür beigebracht hätte. Da er bei Erscheinen des Artikels bereits verstorben, konnte er sich dagegen auch nicht mehr wehren, denn dieser Beleg existiert – und er hatte sogar darauf hingewiesen.

Bischof Jean Soarius, hatte er geschrieben, habe bezeugt, eine der drei Bergspitzen des Ölbergs werde auch „Galiläa“ genannt. (S. 1774) Wie so oft profitierte der alte Hardouin hier mal wieder von seinem phänomenalen Gedächtnis, als er seinen Artikel im Mai 1729 schrieb. Denn der von ihm hier erwähnte Sebastianus Barradas beruft sich in seinem Kommentar tatsächlich auf den Bischof von Conimbre, der damals Jerusalem besucht hatte und bezeugte, dass die dritte Spitze des Ölbergs bis zum damaligen Tag als „Galiläa“ bezeichnet wurde. Allerdings nicht in Kapitel XVI, wie es in Hardouins Artikel heißt, sondern in Kapitel VI des Buches. Deshalb konnten es auch seine Kritiker im angegebenen Buch vermutlich nicht finden. Entweder stimmte also Hardouins Angabe nicht, oder – was sehr viel wahrscheinlicher ist – es handelte sich bloß um einen Druckfehler. Denn auch der Name des Bischofs ist in Hardouins Artikel falsch geschrieben, denn der Bischof, von dem die Rede ist, schrieb sich latinisiert Soarius und nicht „Loarius„. Der portugiesische Bischof Jean Suares (Soarius), auf dessen Zeugnis sich Hardouin bezieht, ist 1561 auf dem Weg zum Konzil von Trient gestorben.

aus: Sebastianus Barradas, Commentaria in concordiam et historiam evangelicam, Band 4, Kap VI (De apparitione Christi in monte Galilaeae. Matthaeus capite XXVIII),  Antwerpen 1618, S. 402 (2. Spalte oben)

Das Gleiche ist auch nachzulesen beim französischen Jesuiten  Isaac Joseph Berruyer[30], der es mit diesem Werk prompt auf den Index Librorum Prohibitorum schaffte. Erst eine „entschärfte“ Version, die 1828 herauskam, fand die Gnade der römischen Zensoren.

aus: Isaac Joseph Berruyer: Histoire du peuple de Dieu, depuis la naissance du Messie… La Haye 1759, S. 459

Doch es gab auch andere Stimmen, die Hardouin beipflichteten, etwa von einem der berühmtesten Exegeten des 18. Jahrhunderts, dem protestantischen Aufklärer Christoph August Heumann, der Hardouin ausdrücklich für diese Einsicht gelobt hat. Wieder ausgegraben hatte die Geschichte der protestantische Theologe Rudolf Hugo Hofmann (1825-1917), der auf die Apokryphen spezialisiert war und an der Uni Leipzig Homiletik und Liturgie lehrte.[31]

Danach geriet sie völlig in Vergessenheit.

Dabei wird es bei Hofmann erst richtig interessant, weil er die Belege, die Hardouin schuldig blieb, auch in den Apokryphen sucht. So z.B. in den Pilatus-Akten (gemeinhin bekannt als Nikodemus-Evangelium), die aus dem 2. Jahrhundert stammen, wird allerdings im Zusammenhang mit der Auferstehung durchweg Galiläa als ein Berg in der Nähe Jerusalems bezeichnet, genauer gesagt als der nördlichste von drei Gipfeln des Ölbergs. Dort soll sich eine Herberge für die Pilger aus Galiläa befunden haben – daher der Name.

Damit bekämen auch die Orts- und Zeitangaben Sinn, und die Himmelfahrt, die laut der Apostelgeschichte „auf dem Ölberg“ stattgefunden haben soll, hätte tatsächlich von „Galiläa“ aus beobachtet werden können, wie im Nikodemus-Evangelium Kap. 16 die jüdischen Reisenden, von Galiläa aus nach Jerusalem „hinabsteigend“ (decendens), den Hohepriestern gegenüber bezeugen. Selbst wenn wir also dergleichen Bezeugungen, die zum Grundbestandteil des katholischen Glaubens gehören, aus aufgeklärter Sicht als bloß legendenhafte „Glaubenswahrheit“ qualifizieren würden, so bliebe dennoch hier ein Hinweis auf einen möglichen historischen Kern der Glaubenserzählung. 

Vor diesem Hintergrund sieht man als moderner Mensch von heute auch die Auferstehungsgeschichte in einem ganz anderen Licht. Und vielleicht auch Jean Hardouin, der wohl noch für so manche Überraschung gut wäre, würde man ihn bloß wieder lesen.

 

Anmerkungen

[1] Die folgende Skizze zu Jean Hardouin Leben und Werk ist (stark gekürzt) entnommen der Einführung meiner historisch-kritischen deutschen Ausgabe von Hardouins „Skandalbuch“ Ad Censuram Scriptorum Veterum Prolegomena (1766), die in diesem Jahr erschienen ist: Jean Hardouin: Prolegomena zu einer Kritik der antiken Schriften. Übersetzt und kommentiert von Rainer Schmidt. Norderstedt 2021

[2] C. Plinii Secundi Historiae Naturalis Libri XXXVII quos interpretatione et notis illustravit Joannes Harduinus, Soc. Jesu, jussu Regis christianissimi Ludovici Magni, in usum Serenissimi Delphini. 5 Bde. Paris 1685; ders.: Editio altera emendatior et auctior. 3 Bde. Paris 1723

[3] Acta Conciliorum et epistolae decretales ac constitutiones Summorum pontificum. 11 Bde. [ein zwölfter ist nicht erschienen]. Paris 1714–1715

[4] Joannis Harduini e Societate Jesu Presbyteri Opera selecta […]. Amsterdam 1709.

[5] Jean Hardouin: Apologie d’Homere, Où l’on explique le véritable dessein de son Iliade, et sa Theomythologie. Paris 1716.

[6] Joannis Harduini e Societate Jesu Opera varia […]. Amsterdam u. Den Haag 1733. – Ein weiterer, allerdings nicht erschienener Folioband aus dem Nachlass scheint offenbar mit dem Erscheinen der Opera varia angekündigt worden zu sein; vgl. Journal de Trévoux. Janvier 1734, S. 111 und Juin 1724, S. 1147 sowie die Hinweise bei de Backer/Sommervogel: Bibliothèque de la compagnie de Jésus, Bd. IV, Sp. 107.

[7] Joannis Harduini e Societate Jesu commentarius in Novum Testamentum […]. Amsterdam 1741.

[8] Ein in der gelehrten Welt seiner Zeit gern gelesenes Periodikum, zugleich Hauszeitschrift der französischen Jesuiten, die eigentlich Mémoires pour l’Historie des Sciences et des Beaux Arts hieß, aber in der Regel nur nach ihrem Druckort Trévoux benannt wurde.

[9] Etliches ging verloren oder wurde noch nie veröffentlicht. „Wir finden in seinen Manuskripten eine immense Sammlung der Väter, die er nacheinander vernichtete. Allein über den heiligen Augustinus gibt es mehrere Bände oder Quarthefte. Es handelt sich um Auszüge, die mit Anmerkungen und oft mit Invektiven gegen die angeblichen Fälscher, die diese Werke geschaffen haben, versehen sind.“ (Journal de Trévoux, Juni 1734, S. 1174; zit. nach de Backer/Sommervogel: Bibliothèque de la compagnie de Jésus. a.a.O., Sp. 109) Hinweise auf Teile des in der ‚Bibliothèque Nationale‘ aufbewahrten Nachlasses geben die Arbeiten von Giuseppe Martini: Le stravaganze critiche di padre Jean Hardouin. In: Scritti di paleografia e diplomatica in onore di Vincenzo Federici. Florenz 1944, S. 349–364; Anthony Grafton: Jean Hardouin: The Antiquary as Pariah, a.a.O.. Im Zuge der Recherchen für ihre romanhafte Aufbereitung der Suche nach den verschollenen Manuskripten der antiken Autoren (Das Mysterium der Zeit. Berlin 2011) haben Rita Monaldi und Francesco Sorti auch einige der Manuskripte Hardouins in der französischen Nationalbibliothek in Paris gesichtet und der interessierten Öffentlichkeit als PDF-Download zur Verfügung gestellt: http://www.attomelani.net/index.php/english/mysterium/hardouin-manuscripts/

[10] „C’est à juste titre qu’il peut se vanter d’avoir parcouru en tout sens le « pays d’antiquité » (Lettre sur la défense de saint Chrysostome). Même les moqueurs ne pourront jamais se défaire d’une certaine admiration envers l’ingéniosité et l’extrême précision philologique qu’il déploie pour soutenir ses thèses.“ (Louis Watier: L’érudition fabulatrice du père Jean Hardouin. In : Épreuves, n° 1, 2014, S. 3)

[11] Paul Hazard: Die Krise des europäischen Geistes 1680-1715. Hamburg 1939

[12] Stephan Kammer: Überlieferung. Das philologisch-antiquarische Wissen im frühen 18. Jahrhundert. Berlin 2017, S. 59

[13] „He! croyez-vous donc que je me serai levé toute ma vie à quatre heures du matin pour ne dire que ce que d’autres avoient déja dit avant moi?“ zit. nach: Dictionaire de la Conversation et de la Lecture. Bd. 31. Paris 1814, S. 348

[14] Martin Mulsow: Die drei Ringe. Toleranz und clandestine Gelehrsamkeit bei Mathurin Veyssière La Croze (1661–1739). Tübingen 2001, S. 38f.

[15] a.a.O, S. 61

[16] Prolegomena, S.1 (S. 79 der deutschen Ausgabe)

[17] Kammer, a.a.O., S. 68

[18] In einem postum veröffentlichten Werk versuchte Hardouin so gut wie alle Protagonisten des französischen philosophischen Denkens im 17. Jahrhundert – unter anderem Pascal und Descartes, Malebranche und Jansenius sowie die Logiker von Port-Royal, Antoine Arnauld und Pierre Nicole – als Atheisten zu demaskieren.(Jean Hardouin: Athei detecti. In: Ders., Opera varia, S. 1–258). Für Differenzierungen sieht er keinen Anlass: „Ils disent tous le mesme.“ (Jean Hardouin: Reflexions importantes, Qui doivent se mettre à la fin du Traité intitulé Athei detecti. In: Ders.: Opera varia, S. 259–273, Zit. S. 260)

[19] Kammer, ebd.

[20] „es überlebt nur die eine ungeschriebene, lebendige mündliche Überlieferung“ (Prolegomena, Kap. IX., Nr. 21, S. 107f; in der deutschsprachigen Ausgabe S. 167)

[21] Hardouins ‚viva vox‘ korrespondiert demnach nur scheinbar mit dem, was die neuere religionsgeschichtliche Forschung, die mit dem Paradigma ‚Schriftlichkeit‘ vs. ‚Mündlichkeit‘ arbeitet, als „mit Hilfe der Schriftlichkeit fixierte[n] […] Ritualismus“ dingfest gemacht und auf die folgende Konsequenz hin untersucht hat: „Schriftlichkeit tötet hier Mündlichkeit ab, aber jetzt nicht im Max Weberschen Sinn in Richtung auf größere Rationalität, sondern in Richtung eben auf Ritualität.“ (Arnold Angenendt: Religion zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Der Prozeß des Mittelalters. In: Clemens M. Kasper u. Klaus Schreiner (Hg.): Viva vox und ratio scripta. Mündliche und schriftliche Kommunikationsformen im Mönchtum des Mittelalters. Münster 1997, S. 37–50, Zitatt auf S. 44f.).

[22] „According to Gustave Dupont Ferrier (1860–1956), he was one of the only professors of Scripture to both teach and publish while in his post, and as a librarian Hardouin’s scholarly production only increased.“ (Anthony J. Watkins: Skepticism, Criticism, and the Making of the Catholic Enlightenment: Rethinking the Career of Jean Hardouin. journal of jesuit studies 6 (2019), S. 489)

[23] vgl. dazu Watkins, a.a.O, S. 494, Anmerkung 29

[24] Nachzulesen bei Henk Hillenaar: Fénelon et les jésuites. Den Haag 1967, S. 121-123. Im Anhang ist dort auch der Brief Hardouins abgedruckt. Vgl. Paschoud, Adrien: L’ érudition au péril de la foi. L’oeuvre apologétique de Jean Hardouin (s. j.). In: Brucker, Nicolas (Hg.): Apologétique 1650-1802. La nature et la grâce. Bern 2010, S. 209, Anm. 25

[25] Mathurin Veyssière de La Croze: Examen abregé du nouveau systeme du Pere Hardouin, sur sa Critique des anciens Auteurs. In: Ders.: Dissertations historiques sur divers sujets. Rotterdam 1707, S. 182–256 (Zitat auf S. 183)

[26] Martin Mulsow: Die drei Ringe, S. 36 (zit. nach Kammer, a.a.O, S. 89)

[27] Kammer, a.a.O, S. 90

[28] Hardouins Zeitgenosse Voltaire nannte ihn einen „Verrückten (fou)“ und bezeichnete seine Behauptung eines weit verbreiteten Atheismus als „lächerlich“. Nicolas Malebranche+ (1638-1715) bemerkte in einem Brief an François de Fénelon (1651-1715) sarkastisch, dass Hardouins atheistische Verschwörung so weit reiche, dass er sich als „einziger Verehrer des wahren Gottes“ betrachten müsse, und die jansenistische Wochenzeitung Nouvelles ecclésiastiques beschrieb ihn als „in der Republik der Briefe durch sein fortwährendes Delirium und seine Paradoxien berühmt“. Neuere Historiker sind oft solchen Kommentatoren des achtzehnten Jahrhunderts gefolgt. „Die meisten Geistesgeschichten des frühneuzeitlichen Frankreichs schenken Hardouin kaum Beachtung, und wenn sie ihn doch erwähnen, dann nur, um die Verschwörungstheorie einer solchen singulärem Figur als „komische Manifestation des Irrationalen inmitten der ernsteren Werke des Zeitalters der Vernunft zusammenzufassen“. Der Historiker Owen Chadwick bezeichnete seinen „Irrsinn“ als „typisch für niemanden“, und auch Arnaldo Momigliano war der Ansicht, dass sein Werk „weit über den Rand des Wahnsinns hinausging“. (Fundstellen dieser Zitate bei Watkins: Skepticism, a.a.O, S. 487) Der englische Forscher Ossa-Richardson nannte ihn noch 2020 schlicht einen „crank“ (Spinner), der für ihn in die gleiche Schublade wie Edward Johnson gehört. (Anthony Ossa-Richardson: Pseudohistory and Metafiction in the Eighteenth Century. In: Felicity Loughlin, Alexandre Johnston (Hg.): Antiquity and Enlightenment Culture. Leiden 2020, S. 23)

[29] Giesen, Heinz: Galiläa – mehr als eine Landschaft. Bibeltheologischer Stellenwert Galiläas im Matthäusevangelium. ETL 77 (2001), S. 23-45, hier S. 39f)

[30] Isaac Joseph Berruyer: Histoire du peuple de Dieu, depuis la naissance du Messie… La Haye 1759, S. 459

[31] vgl. Rudolf Hofmann: Über den Berg von Galiläa (Math 28,16). Leipzig 1856, S. 10

 

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