Potockiana

Sechsundsechzig Tage in der Sierra Morena

Im Jahr 1961, als die erste deutschen Ausgabe der Handschrift von Saragossa im Insel-Verlag herauskam. druckte DIE ZEIT die folgende Besprechung:

Ein polnischer Aufklärer und der Bürgerkrieg von Granada

Von Walter Boehlich

Vor drei Jahren hat Roger Caillois bei den Editions du Seuil in Paris ein ebenso merkwürdiges und sonderbares wie großartiges und aufregendes Buch herausgegeben, das bis dahin fast ausschließlich nur in Polen bekannt war. Es ist das literarische Nebenwerk eines Polyhistors, des Grafen Jan Potocki (1761–1815), wie alle dessen Schriften nicht polnisch, sondern französisch abgefaßt. Seine Schicksale sind verworren. Mancherlei Zufälle haben es der literarischen Welt eineinhalb Jahrhunderte vorenthalten. In einer Auflage von hundert Exemplaren sollte der erste Teil 1805 in Petersburg gedruckt werden; er ist offensichtlich nicht über den Umbruch hinausgekommen, ebenso wie die beiden anschließenden Bogen des zweiten Teils. In Paris erschienen 1813 und 1814 weitere Teile, vielleicht ohne Genehmigung des Autors, der eine Reihe Abschriften seines Manuskriptes hatte herstellen lassen. Eine davon hat er offensichtlich Charles Nodier übergeben, der sie zum Druck befördern sollte, sie aber stattdessen für eigene Zwecke ausgeschlachtet hat. Ein polnischer Emigrant, Edmund Chojecki, übersetzte das Gesamtwerk nach einer in seinem Besitz befindlichen Kopie ins Polnische und ließ es 1847 in Leipzig erscheinen. Es folgten weitere polnische Ausgaben, neue Funde in den Archiven der Familie Potocki und schließlich die von Caillois nach den erhaltenen französischen Drucken hergestellte erste offizielle französische Ausgabe von 1958. Sie vor allem liegt, neben der wenig zuverlässigen polnischen Fassung, der deutschen Übersetzung zu Grunde –

Jan Potocki: „Die Handschrift von Saragossa“, herausgegeben von Roger Caillois, aus dem Französischen von Louise Eisler-Fischer, aus dem Polnischen von Maryla Reifenberg; Insel-Verlag, Frankfurt 1961; 876 S.

Über den Verfasser wissen wir eine Menge. Er hat zunächst Mathematik und Naturwissenschaften studiert, sich aber bald der Geschichtsforschung zugewandt, wobei sein Hauptinteresse auf die Universalgeschichte einerseits und die slawische Vor- und Frühgeschichte anderseits fiel. Er war eine Zeitlang Soldat und ist stets viel gereist, nach der Schweiz und Frankreich, nach Malta, nach Nordafrika, der Türkei, Ägypten, Spanien und Marokko, Italien, durch die russischen Provinzen bis nach China. In einer eigenen Druckerei veröffentlichte er freiheitliche, antiklerikale und revolutionäre Schriften; er begeisterte sich für die Französische Revolution, von deren Entwicklung er bald enttäuscht war, und hing den großen französischen Aufklärern an.

Nichts dagegen wissen wir über die Absichten seines Romans und die Ursachen seiner Entstehung. Er ist in Polen als Gegenschrift zu Chateaubriands „Genie du Christianisme“, von Caillois als Werk der phantastischen Literatur zwischen Cazotte und E. Th. A. Hoffmann gedeutet worden. Mit Recht?

Geschrieben hat Potocki ihn zwischen 1803 und 1815, während in Deutschland die Romantik sich voll entfaltet, während in Frankreich Madame de Staël und Constant, Chateaubriand, Senancour, Nodier das literarische Leben bestimmen. Mit ihnen allen hat Potocki nicht das mindeste zu tun, auch nicht mit ihren unmittelbaren Vorgängern. Seine Vorbilder liegen weiter zurück. Und natürlich hat er Vorbilder gehabt. Er hat nicht aus dem Nichts eine neue literarische Form erfunden, sondern vielmehr sich allenthalben alten Gutes bedient. Das Erstaunliche ist, daß er trotzdem ein Werk geschaffen hat, das denen seiner Zeitgenossen in Frankreich wohl überlegen ist, sie in der Gunst der Leser sicherlich überleben wird.

„Die Handschrift von Saragossa“ ist eine Rahmenerzählung nach dem Modell von Boccaccio und seinen Nachfolgern auf der einen, dem Modell von Tausendundeiner Nacht auf der andern Seite. Alphons van Worden, ein junger Hauptmann der wallonischen Garden, irrt Sechsundsechzig Tage lang durch die Sierra Morena. Er begegnet dabei unzähligen seltsamen Personen; auch seinem Schicksal. Unterwegs unterhält man sich durch Geschichtenerzählen, soweit man sie nicht am eigenen Leibe erlebt. Jedem Tag der Wanderung entspricht ein Kapitel des Romans, der im Druck zunächst in Zehnergruppen, Dekamerone, eingeteilt werden sollte. Schon das ist auffällig. Die „Handschrift von Saragossa“ ist ja keineswegs eine Novellensammlung, für die aus Gründen der Ordnung und der Darbietung ein äußerer Rahmen gesucht worden ist; sie ist, obgleich sie Motive und Stoffe aus der gesamten Erzählliteratur von der Antike bis ins siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert ganz offensichtlich verwendet, ein äußerst kunstvoll gegliederter und verknüpfter Roman. Potocki hat sich völlig unbekümmert über die formalen Traditionen des europäischen Romans spanischer, französischer und englischer Provenienz hinweggesetzt und mit größter Sicherheit ein Modell aufgegriffen, das ihm eine Komposition aus ungleichen kleinen Teilen ermöglichte, wie es seinem mathematischen Sinn offenbar am nächsten kam. So viele und so abenteuerliche Geschichten an diesen sechsundsechzig Tagen auch erzählt werden, sie sind alle in eine folgerichtige Beziehung zur Grundfabel – und zur aufklärerischen Absicht – gebracht worden.

Es hebt wirklich an wie eine Gespenstergeschichte, mit Mitternachtsstunde, Gewittern und Unheimlichkeit, und fast bis zum Schluß des Buches bleibt es unklar, was davon nun Wirklichkeit, was Traum ist, vor allem aber, welche Wirklichkeit gemeint war. Sind die beiden schönen Maurenschwestern Emina und Zibedde Succubi, sind sie Halluzinationen des übermüdeten Wanderers, sind sie Geistwesen aus einer anderen Welt? Sie haben, wie sich zeigt, mit der Romantik und ihrer gespaltenen Realität so wenig zu tun wie mit der Welt des Kunst- und Volksmärchens. Sie haben auch nichts mit dem verspielten oder ätzenden Desillusionismus des französischen oder deutschen Rokokoromans zu tun. Sie sind echte Kinder der Aufklärung, Wesen von Fleisch und Blut, und der ganze Spuk erweist sich als vorbedachte Inszenierung, die die Wahrheit nur so lange verhüllen soll, bis der Held ihrer würdig geworden ist und dem Leser die Spannung nicht mehr geraubt werden kann. Es bleibt nichts Undeutliches zurück, und so phantastisch das Erlebte auch anmuten mag, so sehr gehört es doch ins klare Leben des siècle de lumière.

Glücklich und äußerst romanhaft ist die Szenerie gewählt: die Felsentäler der Sierra Morena. Spanien war seit dem Pyrenäenfrieden (1659) aus Europa verdrängt, seine große Literatur erlosch, es bekam einen exotischen Charakter. Nur zweimal hat es bis zu Potockis Zeiten noch allgemeine Aufmerksamkeit erregt: während des Spanischen Erbfolgekrieges (1701–1714) und während der Erhebung gegen Napoleon (1808). Beide Ereignisse spielen eine Rolle in dem Roman. Während der Belagerung von Saragossa wird die Handschrift, die dem Buche den Titel gegeben hat, gefunden, während des Erbfolgekrieges entwickelt sich die Haupthandlung, in die dann, 1739, Alphons van Worden hineingezogen wird. Was berichtet wird, geschieht im Wesentlichen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts (nicht, wie der Verlag behauptet, um das Jahr 1600!). Zahllose Details lassen es erkennen.

Die Sierra Morena wird zum Zentrum einer immer weiter sich dehnenden Welt; mit allem ist sie verbunden, mit Spanien und Portugal, mit Malta und Italien, mit Nordafrika und Amerika. Christen, Juden, Zigeuner und Mohammedaner leben in gegenseitiger Duldung, alle Stände verchwistern sich. Dieses Modell ist echteste Aufklärung. Freiheit und Gleichheit herrschen. Die lange Geschichte des Ewigen Juden dient nichts anderem als der Idee der Toleranz, wie sie zwischen Bayle und Montesquieu und Lessing und Kant entwickelt worden ist. Echteste Aufklärung auch ist die hundertbändige Enzyklopädie des Diego Hervas, in der jeder bekannten Wissenschaft ein Band eingeräumt ist, von der allgemeinen Grammatik bis zur Wissenschaft der Wissenschaft. Hier zeigt sich Potocki als Schüler der französischen Enzyklopädisten, hier liegt einer der Antriebe seines Wesens. In Diego Hervas ist er selbst, so gut wie im Ewigen Juden, wie in dem Geometer Velasquez, dem Kabbalisten. Er gehört ganz und gar seinem 18. Jahrhundert an, das keinen Vergleich zu scheuen braucht.

Es war bis jetzt nicht von dem Rahmen die Rede, der alle disparaten Teil-Erzählungen zusammenhält. Mit ihm beginnt und endet die „Handschrift von Saragossa“. Die beiden Maurinnen, die die ersten Nächte mit Alphons van Worden verbringen und die er zum Schluß heiraten wird, entdecken ihm seine Zugehörigkeit zum Geschlecht der Gomelez, dessen Reste in den Alpujarras leben. Es wird zurückgeführt bis in die Zeit des Araber-Einfalls, und weiter bis in biblische Vorzeit. Auf eine kurze Formel gebracht, ist das eines der fruchtbarsten literarischen Themen: die Liebe zwischen einem Christen und einer Maurin (oder einem Mauren und einer Christin), das von Spanien aus seinen Weg über Europa genommen hat. Elf Jahre nach Potockis Tode hat es Chateaubriand in den „Abenteuern des letzten Abencerraje“ noch einmal aufgegriffen.

Vom Geschlecht dieser Abencerraje hören, wir auch in der „Handschrift von Saragossa“. Es ist verfeindet mit den Geschlechtern der Gomelez und der Zegri. Die einen leben am Hofe von Granada, die anderen in der Sierra. Der letzte Scheich der Gomelez erzählt dem jungen Hauptmann die verwickelte Geschichte dieser Sippen. Die Abencerrajen werden in Granada von den Gomelez und den Zegris umgebracht, womit der Sturz des letzten maurischen Königreichs besiegelt ist. In den folgenden Jahrhunderten sammeln die Gomelez in ihrer unterirdischen Burg Gold, um den Umsturz vorzubereiten und dem Islam zu neuer politischer Macht zu verhelfen. Keiner der Namen ist unbekannt. Sie alle kennen wir aus einem berühmten Denkmal der spanischen Literatur, den „Guerras Civiles de Granada“ von Ginés Pérez de Hita (1559). Sein erster Teil war berühmt in ganz Europa und hat nach Italien und Deutschland, nach England und Skandinavien, vor allem aber nach Frankreich gewirkt. Direkt oder indirekt ist auch Jan Potocki von ihm abhängig. Ihm hat er das Gerüst seines Romans entnommen, in seine literarische Tradition gehört er. Caillois hat das nicht gesehen.

„Die Handschrift von Saragossa“ ist ein Buch für jeden Leser. Man braucht nichts zu wissen, um sie zu verschlingen und zu genießen. Aber wie immer, so genießt der Wissende auch hier mehr als der Unwissende. Zugleich ist sie aber auch ein Buch für die Literaturforschung, die im einzelnen wird ermitteln müssen, worauf sich Potockis Gelehrsamkeit gründet, woher seine Erzählstoffe stammen. Die Herkunft von Pérez de Hita scheint mir, ungeachtet aller Einzelnachweise, sicher. Potocki kann ihn leicht gekannt haben. Wenn nicht auf spanisch, so doch in der französischen Bearbeitung der Mlle. de la Roche Guilhén (1683). Merkwürdig bleibt allerdings eine Verschiebung der Gewichte. Bei Pérez de Hita ist die Sympathie ganz auf Seiten der Abencerrajen; die Zegris und die Gomelez werden ihrer Tapferkeit wegen gerühmt, aber des Verrats bezichtigt. Bei Potocki ist das Recht der Geschichte und der Tugend auf Seiten der Gomelez. Ist das seine Erfindung? Stammt sie aus anderen Quellen? Fraglos hat Potocki auch den Roman „Gonzalve de Cordoue“ des Jean-Pierre Claris de Florian (1791) gekannt. Ihm geht ein „Précis historique sur les Maures d’Espagne“ voraus, dem er manches verdankt. Florian war der Sohn einer spanischen Mutter; er hat über die hispanisierende Romanliteratur seiner Zeit hinaus ein umfangreiches Quellenstudium getrieben und mit seinem lang vergessenen Roman großen Erfolg gehabt. Potocki muß von ihm gehört haben. Aber es scheint, als habe er auch die „Guerras Civiles“ gekannt, und nicht nur ihren ersten, sondern auch den unübersetzten zweiten Teil (1619), in dem von dem letzten großen Maurenaufstand (1569–1571) berichtet wird, den Don Juan de Austria niederschlug. Auch davon finden sich Spuren in der „Handschrift von Saragossa“. Potocki verliert nichts von seinem Ruhm, sein Roman nichts von seinem fabelartigen Glanz, wenn man ihn aus der Isolierung befreit, in die ihn sein verspätetes und unerklärtes Auftauchen gebracht hat. Will man seine Bedeutung würdigen können, so muß man ihm auch die Stellung in der literarischen Entwicklung geben, die er einmal gehabt hat. Man mißversteht ihn, wenn man ihn mit der Romantik oder dem 19. Jahrhundert verbindet. Man findet einen Schlüssel zu seinem Verständnis, wenn man ihn als ein sehr spätes, sehr glanzvolles Ergebnis der französischen Aufklärungsliteratur in ihrer hispanisierenden Spielart begreift. Dann ist er eine Entdeckung.

Quelle: DIE ZEIT, 27.Oktober 1961

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