ADHS und Lese-Rechtschreibstörungen
Konsequenzen für die Lerntherapie
In den letzten Jahren wird zunehmend über einen Zusammenhang von ADHS und LRS (oder auch Rechenschwäche) gesprochen, manchmal leider auch nur schwadroniert. Einige Diskussionsbeiträge erwecken den Eindruck, fast jede zweite LRS könnte als neurobiologische Ursache eine ADHS haben. Und so manchem selbsternannten LRS-Experten möchten man gern zurufen: „Schuster, bleib bei deinen Leisten!“.
ADHS begünstigt Rechtschreibprobleme
Worin könnte ein Zusammenhang zwischen ADHS und Lese-Rechtschreibstörungen bestehen? Zu den Hauptmerkmalen der ADHS zählt die mangelhafte Verarbeitung von Informationen, die zu Leistungs- und Verhaltensauffälligkeiten führen und dadurch auch den Rechtschreiberwerb erheblich verzögern kann. Das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom gilt als Funktionsstörung im Frontalhirnbereich, die zu einer Reizüberflutung des Gehirns und gestörter Informationsverarbeitung führt.Mangels geeigneter Filter misslingt die Fokussierung auf das Wesentliche oder sie gelingt nur kurzzeitig. Dieser Reizüberflutung ist die (begrenzte) Aufnahmekapazität des Arbeitsgedächtnisses nicht gewachsen. So misslingt der Informationsaustausch zwischen Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis.
Synapsen lernen langsam
Die Folge: Das Gelernte wird nicht ausreichend abgespeichert und ist dann bei Bedarf nicht sofort und richtig abrufbar. „Synapsen lernen langsam“, hat der Hirrnforscher Manfred Spitzer einmal gesagt. Je konzentrierter und häufiger etwas gelernt wird, umso besser entwickeln sich die synaptischen Verknüpfungen im Gehirn. Deshalb werden bei Rechtschreibstörungen die gleichen Wörter sowohl richtig als auch falsch geschrieben, denn der „Wortspeicher“ (den wir uns als eine Art Handlungsanweisung für die Bildung eines Wortes vorstellen müssen) reagiert nicht automatisch. Erlernte Regeln sind zwar bekannt, werden aber nicht angewandt. Die Automatisierung von Lerninhalten und Handlungsabläufen ist bei ADHS erschwert. Folglich können akustische und visuelle Informationen schriftsprachlich nicht ausreichend schnell verknüpft und umgesetzt werden. Betroffene Kinder brauchen viel länger, bis ihnen die richtige Antwort einfällt, selbst dann zweifeln sie noch an deren Richtigkeit. Das alles führt schnell zur Erschöpfung, zum Nachlassen von Konzentration und Motivation. So entstehen in der Schule Probleme in der Mitarbeit und im Arbeitstempo. Durch Reizüberflutung und mangelnde Fähigkeit, sich auf Wesentliches zu fokussieren, sind Kinder mit ADHS immer in Gefahr, sich ablenken zu lassen. So gelingt auch das Nachdenken beim Schreiben oft nur kurzzeitig (im oberen Drittel des Diktates). Bei Stress und emotionaler Erregung kann es zu „Denkblockaden“ mit Blackout und Panik kommen.
Hinzu kommt die oft kaum leserliche Schrift durch z.T. erhebliche Probleme in der Fein- und Graphomotorik, wodurch sich zusätzlich Fehler einschleichen. Nur mit viel Anstrengung gelingen Einhalten der Linien und Ausformung der zu schreibenden Buchstaben.
ADHS-bedingte Rechtschreibprobleme
So schreibt das Kind einfache Wörter, die es schon etliche Male richtig geschrieben hat, plötzlich falsch – schwere Wörter dagegen richtig, weil es sich kurzzeitig konzentriert und nachdenkt. Beim Buchstabieren oder beim Schreiben am Computer werden deutlich weniger Fehler gemacht, weil das Kind sich hier nur auf die Reihenfolge der Buchstaben konzentriert und erfahrungsgemäß länger nachdenkt, bevor es „die Buchstabentaste drückt“. Bei Diktaten werden zu Beginn wesentlich weniger Fehler gemacht, häufen sich aber gegen Ende, weil die Konzentrationspanne nicht reicht. Bei der Durchsicht werden Fehler nicht bemerkt, oft werden aus Unsicherheit noch Fehler „hineinkorrigiert“. Der Wortabgleich zwischen geschriebenem Wort und den im Langzeit- oder Wortbildgedächtnis abgespeicherten Wörtern gelingt nicht schnell genug, weil die dazwischen liegenden Nervenbahnen nicht gut entwickelt sind und der Abgleich nicht ausreichend automatisiert ist.
Zusammenfassend kann man sagen, dass es sich bei ADS-bedingten Rechtschreib-störung um eine Informationsverarbeitungsstörung handelt, verbunden mit einer unzureichenden Konzentration und Daueraufmerksamkeit und Schwierigkeiten in der visuomotorischen Umsetzung. Bei solchen Kindern kommt es gerade darauf an, die Informations-verarbeitung zu verbessern, Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeitsspanne zu stärken und das begrenzte Arbeistgedächtnis zu entlasten. Die Praxis zeigt, dass sich dadurch auch die Rechtschreibung deutlich bessert. Natürlich ist dazu ein entsprechendes kontinuierliches Rechtschreibtraining erforderlich. Bringt das allein nicht den erwarteten Erfolg, kann auch unterstützend für eine gewisse Zeit eine Behandlung mit Stimulanzien erwogen werden. Denn nur ein erfolgreiches Lernen motiviert zum Weiterlernen, baut das Selbstwertgefühl wieder auf und verhindert sekundäre Folgeschäden.
Konsequenzen für die Lerntherapie
Diesen Kindern kann erfolgreich geholfen werden, vorausgesetzt, sie sind wieder zum Üben zu motivieren. Die Therapie erfolgt dann nach einem individuellen multimodalen Therapieprogramm. Zuerst müssen alle verfügbaren Ressourcen aktiviert werden. Nur wenn dass nicht ausreicht, sollten Stimulanzien verordnet werden, doch immer in Verbindung mit verhaltens- und lerntherapeutischer Begleitung. Das Kind soll wieder Freude am Lernen bekommen durch Erfolge. Manchmal ist es anfangs gar nicht zu bremsen mit seiner jetzt gespürten Fähigkeit zum erfolgreichen Lernen. Es beginnt wieder gern in die Schule zu gehen, da es sich dem Versagen nicht mehr so hilflos ausgesetzt fühlt. Natürlich macht die Tablette allein nur wenig, aber das Kind spürt jetzt erstmalig: Was ich gelernt habe, das kann ich auch. So äußern es die Kinder immer wieder und die Noten bestätigen es ihnen. Noch einmal: Die Stimulanzientherapie bei ADS ist kein Allheilmittel, schon gar nicht gegen Rechtschreib- oder Rechenstörungen, aber die Kinder können dadurch all ihre Fähigkeiten für den Lernprozess wirkungsvoll einsetzen. Ihnen steht das zur Verfügung, was ohne Medikament nicht genutzt werden konnte. Mittels Übungs- und Trainingsprogrammen können solche Kinder nun ihre Defizite allmählich beseitigen und ein positives Selbstwertgefühl aufbauen. Die Behandlung der ADHS-bedingten Rechtschreibstörung erfordert im Grundsatz kein anderes Therapiekonzept, sofern es auch bisher multimodal aufgebaut war. Doch es erfordert noch mehr Geduld und Sensibilität für die Fähigkeiten, aber auch die (therapeutisch zu überwindenden) Grenzen der betroffenen Kinder. Nur dann ist mit dauerhaften Erfolgen zu rechnen.