
Das „Propagandablatt des Nicolaus Cusanus“

Peinliche Schnitzer, die mir beim Lesen gelegentlich auffallen, behalte ich meist für mich, anstatt sie öffentlich zu diskutieren, besonders dann nicht, wenn ich den Autor kenne und schätze. Aber manchmal juckt es mich doch, und er möge es mir verzeihen. So las ich unlängst etwas nach in einem seiner älteren, wie immer (und sei es zum Widerspruch) anregenden Bücher zur Chronologiekritik – ein unerschöpfliches Thema in gewissen Kreisen. Beim Lesen fiel mir eine Passage ins Auge, die mir bei früherer Lektüre entgangen war. Es ging da um ein frühes Druckwerk Johannes Gutenbergs aus dem Jahre 1439, angeblich eine Auftragsarbeit für den Humanisten Nicolaus von Cues (Cusanus). „Gutenbergs erster Druckauftrag“ sei ein „Verzeichnis sämtlicher damals als christlich bekannten Gemeinden Deutschlands„, das mit folgenden Worten begonnen habe: Provinciale omniam ecclesiam exemplatum a libro cancellariae apostolicae. Der Kommentar dazu auf S. 196 hat es in sich:
„Dieses Propagandablatt endet nämlich mit einer Huldigung an die Kirche, »Katholikon« genannt: Sie beginnt »Mit des Allerhöchsten Beistand. . .«, wo dann die seltsame Formel der Dreieinigkeit vorkommt: »tibi sancte pater nato cum flamine sacro« – also: »Dir, heiliger Vater, Geborener (Sohn) minder geweihten Flamme.« Und am Schluß wird noch die »fromme Maria« gelobt.“
Autsch! Da musste ich denn doch schlucken. Und zwar nicht nur wegen der Übersetzung! Der Rest kam mir auch komisch vor. Wo hat er das bloß her? Es reizte mich nun wirklich, der Sache nachzugehen.
Das – wie es richtig heißen muss: – „Provinciale omnium ecclesiarum exemplatum a libro cancellariae apostolicae“ oder auch kurz: die „Cancellaria Apostolica“ ist ein Werk, das überhaupt nicht von Cusanus stammt. Es ist auch keineswegs bloß ein Verzeichnis der deutschen Kirchengemeinden. Der Verfasser war ein katalanischer Gelehrter von der Universität Bologna, Hieronymus Paulus (1458-1497), der allerdings – die Gelehrtenwelt damals war überschaubar – mit Cusanus befreundet war. Tatsächlich dürfte es sich hier um einen Wiegendruck handeln, den die beiden Buchdrucker Johannes Besicken und Sigismund Mayr in Rom herausgebracht hatten, und zwar nicht vor Anfang August 1493, also während der Amtszeit des Borgia-Papstes Alexander VI. (1492-1503). Johannes Gutenberg war daran nicht beteiligt.
Überdies scheint der Autor des Buches Kalender-Sprung (2006), aus dem ich hier zitiert habe, wohl mit 1439 einen Zahlendreher gehabt zu haben und damit das Erscheinungsdatum um 54 Jahre vordatiert zu haben. Denn das Erscheinungsdatum 1493 ist verbürgt und z.B. nachzulesen in Johann Albert Fabricius‘ Bibliotheca Latina Mediae et Infimae Aetatis, Bd. 3, Padua 1754, S. 247 oder auch hier auf S. 225. Da war allerdings der hochgelehrte Kardinal Cusanus, der nicht nur eine ganze Reihe angeblicher Texte antiker Päpste, sondern auch die sog. Konstantinische Schenkung durch feinsinnige philologische Analysen als Fälschungen entlarvt hatte – letzteres bereits 1433, also Jahre vor Lorenzo Valla -, schon längst tot. Er starb am 11. August 1464.
In Wirklichkeit beschreibt der von mir zitierte Autor nämlich einen Abschnitt aus dem leicht verstümmelt gesetzten Kolophon des von Gutenberg gedruckten sog. Catholicon:
„Hinc tibi sancte pater nato cu[m] flamine sacro. Laus et honor D[omi]no trino tribuatur et uno Ecclesie laude libro hoc catholice plaude. Qui laudare piam semper non linque mariam.“
Das würde ich allerdings eher so übersetzen:
„Dir, Heiliger Vater, und dem Sohn, mit dem Heiligen Geist, Lob und Ehre gebührt Dir, dem dreifachen Herrn und Einen. Zum Lobe der Kirche, Catholicon, applaudiere in diesem Buch. Höre nie auf, die fromme Maria zu preisen.“
In voller Länge lautet der Schlusssatz des Mainzer Catholicon, den vermutlich Gutenbergs Förderer, der Mainzer Jurist Konrad Humery verfasst hat, auf Lateinisch und in der deutschen Übersetzung des argentischen Typographen Raúl Maria Rosarivo (Gutenberg Jahrbuch 1955, S. 70):

„Altissimi presidio cuius nutu infantium lingue fiunt diserte. Quique numero sepe parvulis revelat quod sapientibus celat. Hic liber egregius catholicon dn¯ice incarnacionis annis Mcccc lx Alma in urbe maguntina nacionis inclite germanice. Quam dei clemencia tam alto ingenii lumine dono que gtuito ceteris terrarum nacionibus preferre. illustrare que dignatus est non calami. stili. aut penne suffragio. sed mira patronarum formarum que concordia proporcione et modulo. impressus atque confectus est. Hinc tibi sancte pater nato cum flamine sacro. Laus et honor dn¯o trino tribuatur et uno Ecclesie laude de libro hoc catholice plaude. Qui laudare piam semper non linque mariam. DEO GRACIAS.“
„Unter dem Beistände des Höchsten, auf dessen Wink die Zungen der Unmündigen beredt werden und der oftmals den Geringen offenbart, was er den Weisen verbirgt, ist dieses vortreffliche Buch Catholicon im Jahre der Menschwerdung des Herrn MCCCCLX in Mainz, der hehren Stadt der berühmten deutschen Nation, welche die Güte Gottes mit einer so hellen Erleuchtung des Geistes und durch ein so gnadenreiches Geschenk vor den anderen Völkern der Erde auszuzeichnen und zu verherrlichen gewürdigt hat, nicht mittels des Schreibrohrs, des Griffels oder der Feder, sondern durch bewundernswerte Stempel (Patronen) und Formen, und dazu in Übereinstimmung von Proportion und Gesetzmäßigkeit (Modul) gedruckt und vollendet worden. Darum sei dir, Heiliger Vater, dem Sohne und dem Heiligen Geiste, dem Dreieinigen Herrn, Lob und Ehre dargebracht, und du, Catholicon, erklinge in diesem Buch zum Lobe der Kirche und lasse nicht ab, der gütigen Maria zu danken. GOTT SEI GEDANKT!“
Das Catholicon ist ein ziemlich dicker Wälzer, 373 eng bedruckte Folioseiten, zweispaltig. Ein Dominikaner namens Giovanni Balbi aus Genua soll das zugrundeliegende Manuskript im 13. Jahrhundert verfasst haben, ein Mann, den wir auch unter dem Namen Ioannes Balbus oder Johannes Januensis (von Genua) kennen. Diese Summa grammaticalis quae vocatur Catholicon, ist als Manuskript allerdings erst seit den 1370er Jahren bekannt. Da war Balbi schon lange tot, denn sein Todesjahr soll 1298 sein. Sonst ist wenig über diesen Mönch bekannt, nicht einmal sein Geburtsjahr.
Der Foliant besteht aus verschiedenen Abhandlungen über Orthographie, Etymologie, Grammatik, Prosodie, Rhetorik und einem etymologischen Wörterbuch der lateinischen Sprache im Gesamtumfang von sage und schreibe 670.000 Wörtern. Ein Bestseller der Renaissancezeit, wo merkwürdigerweise eine Reihe solcher Werke hochgelehrter Mönche aus dem 13. Jahrhundert – quasi zur rechten Zeit – auftauchten! Petrarca und Boccaccio sollen sich daraus bedient haben. Erasmus von Rotterdam (in De Ratione Studiorum und seinen Colloquia) war davon allerdings not amused, ebensowenig wie Lorenzo Valla oder der berüchtigte Poggio Bracciolini. Letzterer wohl vor allem, weil er fand, dass Balbi nur über mangelhafte Griechischkenntnisse verfügte.
Ein bisschen mehr Umsicht beim Quellenstudium, auch wenn die Informationen vielleicht bloß der Sekundärliteratur entstammen, wäre doch manchmal anzuraten.

