Wissenschaft

Lesarten des Korans

Von Wolfgang Günter Lerch

KoranWas ist der Koran? Ist dieses den Muslimen heilige Buch, so wie es sich heute darstellt, vom Himmel gefallen oder ein geschaffenes Werk, das freilich von Gott und seinem Walten in der Welt kündet? Der frühe Islam hat darüber sehr wohl gestritten, bis sich die orthodoxe Auffassung verfestigte, er sei das „ewige und ungeschaffene“ Wort Gottes. Die gegenwärtige Konfrontation mit dem Islam hat auch den westlichen Koranforschern, deren wissenschaftliche Tätigkeit bis dato im verborgenen blühte, zu unverhoffter Resonanz verholfen. Und wie so vieles, begann auch – zumindest in neuerer Zeit in Deutschland – eine gründlichere Beschäftigung mit diesem Thema im 19. Jahrhundert mit dem Welt-Weisen aus Frankfurt und Weimar.

August Wilhelm Schlegel war es, der Goethe einmal einen „zum Islam konvertierten alten Heiden“ nannte. Er spielte damit, ein wenig spöttelnd, auf dessen auffallend intensives Interesse am Orient an, das sich unter anderem in dem Versuch zeigte, in die arabische Schrift und die Anfangsgründe der arabischen Grammatik einzudringen.  Allerdings war Goethe zu sehr Dichter, als daß ihn diese doch recht trockene Materie auf die Dauer hätte befriedigen können. Ihn fesselte vor allem die orientalische, die persische Dichtung. Über den Koran schrieb er in seinen „Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan“, er sei ein Buch, „das uns…immer von neuem anwidert, dann aber anzieht, in Erstaunen setzt und am Ende Verehrung abnötigt“.

Einen über jeden Zweifel erhabenen Korantext hatte er da nicht vor sich liegen. Dieser fehlt bis heute. Zwar haben sich die Muslime auf eine Fassung geeinigt, die unter dem dritten Kalifen Uthman (Osman), der von 644 bis 656 nach Christus über das expandierende muslimische Reich herrschte, zusammengestellt worden sein soll und der sie kanonische Bedeutung zumessen. Doch diese Authentizität ist immer wieder bezweifelt worden, am gründlichsten von einigen westlichen Koranforschern.

Doch gehören auch Muslime dazu. Noch heute haben etwa die in der Türkei lebenden, schiitisch-heterodoxen Aleviten vieles auszusetzen an dem von ihnen so genannten „Uthman-Koran“. Als Minderheit, die von den Sunniten oft verfolgt wurde, werfen sie den alten Redaktoren der heiligen Schrift Verbiegungen, Auslassungen und Verfälschungen vor mit dem Ziel, die Herrschaft nichtalidischer Kreise dauerhaft abzusichern. Mohammed der Prophet war 632 n. Chr. gestorben, ohne einen Nachfolger zu ernennen. Der Streit zwischen den Sunniten und den Anhängern Alis, eben diesen Aliden oder Schiiten (schiat Ali – Partei des Ali) um die legitime Nachfolge, das Kalifat, war zu jener Zeit bereits voll entbrannt. Machtlegitimation habe schon bei der damaligen Redaktion der verstreuten Offenbarungen zu einem einheitlichen Koran Pate gestanden, ein Vorgang, der aus der Geschichte anderer Hochreligionen auch bekannt ist.

In klarer arabischer Sprache

Die Sache ist nicht ohne Pikanterie, denn für den orthodoxen sunnitischen wie schiitischen Muslim gilt gerade dieser heute vorliegende Koran als authentisches Gotteswort, als Offenbarung (wahy), die dem Propheten Mohammed über den Erzengel Gabriel „in klarer arabischer Sprache“ übermittelt worden ist. Goethe mußte bei seinen orientalischen Studien natürlich mit europäischen Übersetzungen des Korans arbeiten, was die Sache zusätzlich erschwerte.

Koran-UebersetzungDie Kette von Übertragungen des heiligen Buches der Muslime aus dem Arabischen reicht weit zurück, bis in das Hochmittelalter: Angeregt von Petrus Venerabilis, Abt von Cluny, schuf Robert von Ketton (Robertus Kettenensis) im Jahr 1143 die erste – durchaus lückenhafte und häufig auch paraphrasierende – Übertragung des Korans ins Lateinische. Die vorläufig letzte wissenschaftlich ambitionierte Übertragung ins Deutsche stammt von dem Tübinger Orientalisten und Koranforscher Rudi Paret (1901-1983), der wohl in der zweiten Hälfte des zurückliegenden Jahrhunderts die größte Autorität auf diesem Feld gewesen ist, zusammen mit dem Franzosen Regis Blachere (1900-1973) und dem Engländer Richard Bell (1876-1952).

Parets zweibändige Koranübersetzung mit Konkordanz erschien in den Jahren 1963/66. Sie wurde bald zu einem Standardwerk, das in der deutschsprachigen Literatur am häufigsten zitiert wird. Parets Übertragung gibt an vielen Stellen alternative Lesungen an, insgesamt dürfte ein Viertel des Korans, der mehr als sechstausend Verse umfaßt und in 114 Suren oder Abschnitte gegliedert ist, für alternative Lesungen und Übersetzungen offen sein.

Daß es reichlich unklare Stellen gibt, fiel schon al Tabari, dem größten muslimischen Korankommentator, im 9./10. Jahrhundert auf. Die Notwendigkeit, klare Lesungen des Korans zu erstellen, trug nicht wenig zur Entwicklung der philologischen Wissenschaften im klassischen Islam bei: zur Lexikographie und Grammatik zum Beispiel. Paret folgt in seiner Auffassung vom Koran, ungeachtet der unklaren Stellen, die er deutlich benennt, doch der muslimischen Tradition. Dasselbe gilt für die meisten der heutigen Orientalisten, etwa den gegenwärtig bekanntesten deutschen Koranforscher Hartmut Bobzin aus Erlangen. Er nennt den Koran ein „mißverstandenes Buch“, das für den Leser „nicht leicht zu erschließen“ sei. So ist es.

Die gläubige Tradition geht davon aus, daß das vorliegende Korpus der Suren im großen und ganzen nicht mehr in Frage zu stellen sei, sondern nur (noch) auszulegen. Der Koran, weniger der Prophet, bildet seit der Frühzeit eben die Mitte des islamischen Glaubens. Manche Religionsphänomenologen haben deshalb für die Religion des Islam auch schon die Bezeichnung „Koranismus“ vorgeschlagen.

Obwohl die heilige Schrift in zahlreiche westliche und auch orientalische Sprachen wie das Türkische übertragen wurde, gilt sie eigentlich als unübersetzbar; man muß sich, wenn möglich, an den arabischen Urtext halten. Doch was ist der Urtext? Und wie kam der jetzt vorliegende Text zustande?

Uthman_KoranUnter dem dritten Kalifen, so lautet die gängige Auffassung, wurden die Verse, die auf Knochen, Blättern, Steinen und anderen haltbaren Materialien niedergeschrieben worden waren, gesammelt und zusammengefaßt. Hinzu kam die mündliche Überlieferung durch die „sahaba“, die Genossen des Propheten. Die mündlichen Traditionen spielen in den religiösen Überlieferungen des Orients – und das gilt bis heute – tatsächlich eine nicht zu unterschätzende Rolle.

In den vergangenen Jahren hat ein in Deutschland lebender, unter dem Pseudonym Christoph Luxenberg publizierender Semitist nahöstlicher Herkunft[1] mit seinem Buch „Die syro-aramäische Lesart des Korans“ für Aufsehen gesorgt und eine sogenannte „Luxenberg-Kontroverse“ hervorgerufen. Luxenberg versuchte, unklare Stellen des Korans nicht über das Arabische, sondern das Aramäische neu zu erschließen. Die Gebildeten in Mekka und Medina, den Wirkungsstätten Mohammeds, hätten zu dessen Lebzeiten viel mehr das Aramäische oder eine „Mischsprache“ verwendet als das Hocharabische, wie es der Koran biete. Diese Sprache sei erst sehr viel später ausgereift. Zudem stützte Luxenberg sich darauf, daß die Koranverse zunächst in äußerst defektiver Schreibung vorgelegen haben.

Bibel und KoranTatsächlich geben die Schriftsysteme der semitischen Sprachen im allgemeinen nur die Konsonanten wieder, nicht jedoch die Vokale, was die korrekte Lesung bisweilen erschwert. Außerdem entstanden erst lange nach dem Tod des Propheten jene Hilfszeichen, die die Vokalisierung der Wörter eindeutig(er) machen und die Identifizierung der Konsonanten erleichtern. In frühislamischer Zeit boten dagegen einige der defektiven Schriftzeichen bis zu sechs Möglichkeiten der Buchstaben-Identifikation.

Über das Aramäische versuchte Luxenberg, strittige Verse neu zu lesen, wobei – um nur das Spektakulärste zu nennnen – bei ihm jene Paradiesesjungfrauen („Huris“) eliminiert wurden, die der Koran nach traditioneller Lesart den gläubigen Männern im Paradies verspricht. Sie wurden in der aramäischen Lesung durch „weiße Weintrauben“ ersetzt. Je mehr das Aramäische in Arabien verlorengegangen sei, desto weniger habe man mit bestimmten Stellen des Korans sprachlich und inhaltlich anfangen können und sie im sich ausdifferenzierenden Hocharabischen „verlesen“ – bis hin zu gelegentlicher Unverständlichkeit, die den späteren muslimischen Kommentatoren Rätsel aufgegeben habe.

Das Echo auf Luxenbergs Thesen war geteilt. In der Fachwelt gab es wenig Zuspruch, aber viel Ablehnung. Daß der Koran zahlreiche aramäische Lehnwörter enthält, war schon lange bekannt. Sigmund Fraenkel (1855-1909) und Abraham Geiger (1810-1874) hatten bereits über fremde sprachliche Einflüsse, aramäische wie hebräische, gearbeitet. Immerhin fand vom 21. bis zum 25. Februar 2004 in Berlin unter Leitung der deutschen Islamkundlerin Angelika Neuwirth ein Symposion statt, das die Luxenberg-These zum Anlaß nahm, den Problemkreis wieder einmal anzusprechen. Dabei wurde nun hinwiederum Luxenbergs ganz vorbildloses „Deutungsmonopol“ in Frage gestellt und bekräftigt, daß man viel zu wenig über das Umfeld der Koranentstehung wisse.

Dennoch könnte die Koranforschung in Deutschland nach Jahren eines gewissen Stillstandes neue Anstöße erhalten und weniger bizarre Wege einschlagen als zuletzt die angelsächsische Schule des „Revisionismus“ von John Wansbrough, Patricia Crone und Michael Cook. Ihre These von der Entstehung des Korans im Irak frühestens zwei Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten steht möglicherweise kurz vor ihrem Scheitern. Der Streit um Luxenberg legt demgegenüber wieder den Gedanken nahe, daß die Beziehungen Mohammeds wie des Korans zum Christentum sowie die christlichen Einflüsse auf die Entstehung des Islams intensiver waren als bekannt und anerkannt.

koran_bibelDie Muslime selbst sehen in Jesus den wichtigsten Propheten vor dem Stifter ihres eigenen Glaubens und im Christentum (wie Judentum) die Vorläufer-religionen. Der Koran enthält zahlreiche Überlieferungen der Bibel, berichtet von biblischen Gestalten, wenn auch in manchmal stark abweichenden Zusammenhängen. Und es zeichnet sich die Möglichkeit ab, daß Teile des Korans schon vor dem Propheten vorhanden waren, daß Mohammed bei seiner Religionsstiftung sozusagen mit ihnen theologisch „arbeitete“. Später wurden sie in den übrigen, allein auf den Propheten zurückgehenden Koran eingefügt, bei den Redaktionen jedoch bisweilen so verlesen und umgearbeitet, daß ihre frühere Herkunft in Vergessenheit geriet.

All das hätte man freilich früher haben können. So sieht der Arabist und liberale protestantische Theologe Günter Lüling, ein Schüler Albert Schweitzers (1875- 1965) und Martin Werners (1887-1964), Islam und Christentum in der Gestalt des Propheten Mohammed wie im Corpus des Korans selbst auf das engste miteinander verbunden. Wie Luxenberg stellt Lüling auf die extrem defektive Schreibung des frühen Arabischen ab, die noch etwa hundert Jahre lang nach des Propheten Tod vorgeherrscht hat und teilweise auch aus religiös-politischen Gründen im frühen Islam absichtlich umgeprägt wurde. Demnach enthält der Koran Teile, die sogar älter sein mögen als die Lebensspanne des Propheten, insgesamt bis zu einem Drittel christliche Strophenlieder und Hymnen, deren eigentümlicher Charakter aus der syrischen Liturgie später „verlesen“ wurde.

Im Jahr 2003 erschien Lülings Hauptwerk, bezeichnenderweise in einem indischen Verlag und in englischer Sprache: „A Challenge to Islam for Reformation“. Es ist die erweiterte Fassung von Lülings Erlanger Dissertation aus dem Jahre 1970: „Über den Urkoran. Ansätze zur Rekonstruktion der vorislamisch-christlichen Strophenlieder im Koran“. Diese Arbeit erhielt zunächst das Prädikat eines „außergewöhnlichen Werkes“ zuerkannt, verfiel dann jedoch wissenschaftlicher Ächtung. Lülings Thesen waren wohl dazu angetan, die Überlieferungen der Muslime allzu radikal in Frage zu stellen. Überdies widersprachen sie eklatant der Meinung einiger Autoritäten der Koranforschung. Für Lüling bedeutete das den Ruin seiner Karriere. Er lebte lange von der Sozialhilfe.

Ist das Klima heute günstiger? Zwingt nicht der „clash of civilisations“ erst recht zur Vorsicht?

Lüling sieht sich ein wenig in der Funktion der „Hanifen“, jener Wahrheitssucher und „Einsiedler“ Arabiens, die vor und zur Zeit des Propheten Mohammed gewissermaßen als seine Vorläufer auftraten. Er will nicht nur philologisch größere Klarheit in den Koran bringen, sondern auch religiös und theologisch größere Nähe zwischen Christen und Muslimen (wie auch Juden) herstellen. Mit Hilfe der Philologie, der Poetologie und der Religionsphänomenologie zeigt Lüling, daß große Teile der ältesten Schichten des Korans, etwa auch die berühmte Sure 96, mit der nach landläufiger Auffassung der Muslime die Offenbarungen einsetzten, ursprünglich ein altchristliches Lektionar[2] enthalten, das offenkundig im altchristlichen Gottesdienst im Wechselgesang zwischen Gemeinde und Priester angestimmt worden ist.

Schon ältere Arabisten und protestantische Theologen der liberalen Schule sowie rabbinisch ausgebildete Orientalisten wie Karl Vollers (1857-1909) und Julius Wellhausen (1844-1918) hatten darauf hingewiesen, daß der Koran offenkundig auch strophische Dichtung enthält. 1926 nahm der bekannte ägyptische Gelehrte und Schriftsteller Taha Hussain, der unter anderem in Paris mit kritischen Methoden der Literaturbetrachtung bekannt geworden war, diese These auf und sprach von vorislamischen metrischen Texten im Koran. Doch er mußte nach Protesten der Frommen und der theologischen Autoritäten widerrufen.

Es war auch erörtert worden, ob der Koran nicht ursprünglich in arabischer Umgangssprache verfaßt worden sei, also nicht in dem Hocharabisch, das mit der Einführung von Kasusendungen die ursprünliche Prosodie der Strophen beseitigt, die Texte damit in Prosa respektive Reimprosa „umfrisiert“ habe. Lüling will mit seinem Ansatz unter anderem diesen älteren, ebenfalls theologisch gebildeten Gelehrten der Orientkunde Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Lueling UrkoranLülings Buch ist eine beständige Auseinandersetzung mit den Lesungen Parets. Dieser gibt den berühmten Anfang von Sure 96 wie folgt wieder: „Trage vor, im Namen deines Herrn, der erschaffen hat/den Menschen aus einem Embryo erschaffen hat/Trag vor! Dein Herr ist edelmütig wie niemand auf der Welt/(er), der den Gebrauch des Schreibrohrs gelehrt hat/den Menschen gelehrt hat, was er (zuvor) nicht wußte…“ In Lülings Version wird aus dem „Trag vor“ (oder „Lies!“, das Geoffenbarte) ein hymnisches: „Rufe an, den Namen deines Herrn/der erschaffen hat den Menschen von Lehm/Rufe an, denn dein Herr ist gnädig/der mit der Schrift lehrte/lehrte den Menschen, was er nicht wußte…“

Lüling nimmt etliche der bedeutendsten Suren in den Blick und kommt zu verblüffenden Lesungen, die nicht allein durch sprachlich-grammatikalische Rekonstruktionen, sondern auch durch den Verweis auf biblische Topoi oder auf die frühchristliche religiöse Literatur insgesamt angereichert werden. Gelegentlich gelingt es ihm sogar, die nur noch indirekt vorhandenen „verräterischen“ Spuren früherer Textfassungen zu erschließen, die bei der späteren Redaktion verlorengingen.

Koranforschung ist freilich nicht möglich, ohne das Umfeld zu beschreiben, in dem der Prophet Mohammed wirkte. Auch da hat Lüling Erstaunliches zu bieten. Bis heute wird der Muslim mit einer Version groß, die um den Begriff der „dschahilija“, des altarabischen Heidentums, kreist. Zu Zeiten des Propheten habe in Arabien, zumal in der Stadt Mekka, ein altarabischer Götter- und Götzenkult mit der Kaaba als zentralem Heiligtum geherrscht. Diesen habe der Koran als Polytheismus verurteilt und durch die koranische Botschaft des Monotheismus ersetzt. Nur vereinzelt habe es unter der arabischen Bevölkerung Sucher nach dem einen Gott gegeben. Jüdische Gemeinden, etwa in Medina und der Oase von Chaibar, sowie einige verstreute Christen hätten die religiöse Landschaft vervollständigt.

Ohne trinitarische Verfälschung

Nach Lülings Auffassung („Die Wiederentdeckung des Propheten Muhammad, Eine Kritik am ,christlichen‘ Abendland“, Erlangen 1981) war das Arabien zu jener Zeit, da der Islam gestiftet wurde, zum großen Teil schon christlich. Die Hauptgegner des Propheten, seine mekkanischen Landsleute vom Stamm der Banu Quraisch, erscheinen bei Lüling nicht als Bekenner heidnischer Vielgötterei und Götzenkulte, sondern als Christen, und zwar hellenistisch geprägte Christen, die dem Dogma von der Trinität anhingen. Genau dagegen habe sich der Prophet mit Entschiedenheit gewandt, um einen reinen Monotheismus „ohne trinitarische Verfälschung“ zu etablieren als Rückkehr zu jenem unverfälschten Ein-Gott-Glauben der Semiten („Abrahams und der Stämme“), der auch Judentum und Christentum ursprünglich zugrunde lag, von diesen aber im Laufe der Zeit verändert, angepaßt und uminterpretiert wurde.

In der Tat ist die Lehre von der Dreifaltigkeit bis heute einer der strittigsten Punkte zwischen Christen und Muslimen, die in der Trinität eine „Beigesellung“ anderer Wesen zum Wesen des einen und einzigen Gottes sehen, damit aber „Polytheismus“. Das habe der Prophet, so lautet Lülings Botschaft, in Mekka nicht abstrakt gegenüber altarabischen Polytheisten und Götzendienern vorgebracht, sondern gegenüber arabischen Christen eben in seiner Heimat, deren Glaube vom Hellenismus und den Lehrentscheidungen der frühchristlichen Konzilien bestimmt gewesen sei.

An anderer Stelle hat Lüling sprachliche, historische, architektonische, kunsthistorische Hinweise und Belege dafür gesammelt, daß die Kaaba zur Zeit Mohammeds eine Kirche gewesen sei („Der christliche Kult an der vorislamischen Kaaba als Problem der Islamwissenschaft und christlichen Theologie“, Erlangen 1992) und daß der Prophet, als er nach acht Jahren des Exils in Medina im Jahre 630 n. Chr. im Triumph nach Mekka zurückgekehrt sei, die Kaaba keineswegs, wie die Überlieferung berichtet, von altarabischen Götzen oder Götterbildern gereinigt habe, sondern von christlichen Heiligenbildern. Die bis heute zu beobachtende Scheu der Muslime vor jeder bildlichen Darstellung ist ein Nachhall des prophetlichen Willens, zurück zum bildlosen einen Gott zu gelangen.

Spätere Generationen haben, so Lüling, diese religiösen und theologischen Ereignisse und Begleitumstände um den Propheten und den Koran vergessen. Außerdem haben sie die Erstellung eines einheitlichen Korans den sich wandelnden politischen Strukturen und Machtverhältnissen in einem entstehenden islamischen Großreich mit und in seiner arabischen Gelehrten- und Literatursprache angepaßt. Lüling will mit seinen Forschungen nicht Muslime und Christen aneinandergeraten lassen, sondern erreichen, daß beide Herkunft und Art ihrer Dogmen sowie deren Verfestigung überdenken und so die Nahost-Konfrontation geistig überwinden.

Anmerkungen

[1] Diese Behauptung wurde in einer Rezension von François de Blois im Journal of Qur’anic Studies, 2003, Volume V, Issue 1, pp. 92-97, aufgestellt, ist aber falsch, wie Rundfunkinterviews mit L. belegen. (Anmerkung occam)

[2] Genau dies ist auch eine zentrale These Christoph Luxenbergs, der sich ohnehin auf Lüling als wichtigsten Vorläufer bezieht (Anmerkung occam)

Quelle für Text: F.A.Z., 27.06.2005, Nr. 146 / Seite 8

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