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ADHS – bloß eine Erfindung?

Der Zappelphilipp
Der Zappelphilipp

Unruhige Kinder, denen es schwerfällt, ihre Impulsivität unter Kontrolle zu bringen, kannte bereits der „Struwwelpeter“-Autor Heinrich Hoffmann und hat sie im „Zappelphilipp“ verewigt. An der Realität von Aufmerksamkeits-störungen, Zappeligkeit, dem weitgehenden Verlust von Impulskontrolle und von extremer körperlicher Unruhe wird niemand zweifeln, der solche Kinder kennt.

Trotzdem sei die Frage erlaubt, ob alles, was gegenwärtig unter diese unscharfe Kategorie fällt, wirklich dazu gehört. Vielleicht ist es gerade die diffuse Definition, verbunden mit der Tendenz zur Pathologisierung, die in den USA – und mittlerweile auch in Europa – ganz anderen Zwecken dient. In Deutschland hat u.a. der Neuropychologe Gerald Hüther faktenreich belegt, dass erst die Etablierung des Begriffs Aufmerksam-keitsdefizit-Syndrom in den USA zu einer ökonomischen Verwertung führen konnte, die in der Geschichte der Medizin fast beispiellos ist. Unbestritten ist, dass die American Psychiatric Association (APA) ihren ganzen Einfluss geltend gemacht hat, um ADS – in den USA spricht man von ADHD – ins wichtige Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders aufnehmen zu lassen. Fast gleichzeitig ging die APA weitreichende Partnerschaften mit pharmazeutischen Konzernen ein, die zunächst dem Ziel dienten, den noch mächtigen Einflussbereich der „sozial denkenden Psychiatrie“ zurück zu drängen und in einem zweiten Schritt einen erweiterten Absatzmarkt für Psychopharmaka zu schaffen. Bezeichnenderweise wird die größte Elterninitiative in den USA mit 45.000 Mitgliedern direkt vom Ritalin-Hersteller Novartis finanziert. Ch.A.D.D. (Children and Adults with Attention Deficit Disorder) vertritt nur eine einzige Sicht: ADS hat eine neurobiologische Ursache und muss medikamentös behandelt werden.

7.5.2009 Ärzte-Zeitung: Bei Kindergartenkindern sind Störungen der Aufmerksamkeit schwer zu fassen. Foto: Nicole Effinger©www.fotolia.de

In groben Zügen lautet die Theorie: Das Verhalten sei gestört, weil das Gehirn nicht richtig funktioniere. Unaufmerksam und unruhig seien die Kinder, weil bei ihnen eine Wahrnehmungs- und Impuls-kontrollstörung vorliegt. Ursache dafür sei eine zentrale Informations-verarbeitungsstörung. Das wiederum läge daran, dass das Gehirn die Informationen an den Synapsen nicht richtig verarbeite – und zwar deshalb, weil an den Synapsen ein Transmittermangel vorliege: eine unzureichende Ausschüttung des Botenstoffs Dopamin. Werde dieser Transmittermangel behoben, funktioniere alles wieder normal. Bewiesen ist das freilich nicht! Solange wir aber die primäre Störung gar nicht kennen, solange man nicht weiß, „welche Veränderungen am Beginn einer Störung auftreten und welche erst im weiteren Verlauf entstehen, läuft man ständig Gefahr, die erst spät auftretenden und dann meist auch gut messbaren Folgen für die Ursachen der Störung zu halten.“ (G. Hüther)

 

Schlussfolgerungen für künftige ADHS-Therapien:

„Familien müssten wieder mehr Wert auf gemeinsame Projekte legen, die Überstimulation durch Medien sollte reduziert werden, Kinder sollten wieder lernen, die Aufmerksamkeit gemeinsam mit anderen Menschen auf gemeinsame Interessen oder Aufgaben zu lenken. Wenn das in Familien schiefgelaufen ist oder nicht geleistet werden kann, muss es in psychotherapeutischen, psychosozialen oder pädagogischen Interventionen nachgeholt werden. Aber eben als Unterstützung beim Erwerb der wichtigen sozialen Erfahrung von geteilter Aufmerksamkeit und nicht als individuelles Aufmerksamkeitstraining. Die Verabreichung von Medikamenten, die die Symptome dieser Kinder unterdrücken, ist eine sehr fragwürdige Behandlungsstrategie. Aber auch die gegenwärtig noch sehr individuellen Therapien für ADS-Kinder zur Verbesserung ihrer Aufmerksamkeitsleistungen scheinen kein optimaler Weg zu sein, um ihnen aus ihrer Not herauszuhelfen.“
Quelle: Interview mit mit dem Neurowissenschaftler Prof. Gerald Hüther, Psychologie heute. Januar 2010

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