Geschichte,  Theologie

Nazarener, Nazoräer, Nasiräer – war da noch was?

Die Erfindung einer jüdischen Sekte

Ausdrücke wie Nazoräer oder das geläufigere Nazarener klingen uns heute vertraut. Je nach Denkrichtung verbindet man damit mal die Anhänger Jesus, abgeleitet von seiner Geburtsstadt Nazareth, oder eine judenchristliche Gruppierung. Die Tradition dieser Deutungsweisen ist allerding noch recht jung und die Quellenlage – um es vorsichtig auszudrücken – überschaubar. Denn eigentlich erst seit Solomon Schechters Veröffentlichung einer palästinensischen Überlieferung der Birkat haMinim[1] aus der Kairoer Genisa Ende des 19. Jahrhunderts haben die sog. Nazoräer die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf sich gezogen. Diese Überlieferung enthält nicht nur eine Verdammung der Minim (= Ketzer), sondern verweist auch auf eine Gruppe sog. נוצרים (nosrim) die von einigen Gelehrten mit den Nazoräern identifiziert wurde. Bereits in der frühen rabbinischen Literatur wurden die Christen gelegentlich so bezeichnet – ein Begriff, der sich bis ins moderne Hebräisch erhalten hat.[2]

Das ist noch so vage, dass man feststellen müsste, dass diese wissenschaftliche Aufmerksamkeit in keinem Verhältnis zur historischen Bedeutung der betreffenden Gruppe steht. Denn trotz der Birkat haMinim sind historische Belege für die Existenz einer judenchristlichen Gruppierung sog.  Nazoräer dürftig, was ihren eher exotischen Charakter widerzuspiegeln scheint. Streng genommen sind es nur zwei Kirchenschriftsteller, die diese Nazoräer als eigenständige Gruppe erwähnt: Epiphanius von Salamis und Hieronymus.

Epiphanius von Salamis

Epiphanius führt die Nazoräer als Häresie in seinem Panarion (»Hausapotheke«) auf, ein von der traditionellen Geschichtsschreibung um 374-377 n. Chr. datierten Katalog von sage und schreibe 80 »Häresien«. Buch 29, Abschnitt 1.2, der den Nazoräern gewidmet ist, beruht allerdings keineswegs, wie Epiphanius Glauben machen möchte, auf seiner eigenen Erfahrung und persönlichem Wissen, sondern kombiniert lediglich Textstellen aus Eusebius‘ Kirchengeschichte und der Heiligen Schrift.[3]

Hieronymus erwähnt sie dagegen eher beiläufig in einer Reihe von Passagen, die über sein gesamtes exegetisches Werk verstreut sind, in einigen Kommentaren zu Jesaja, Hesekiel, Jeremias, Matthäus und Bd. 3 seiner De viris illustribus.

Zudem herrscht eine gewisse Begriffsverwirrung: Das aus dem Aramäischen stammende Wort rayyā bedeutet »Observanten, Rechtgläubige«. Im aramäischen NT ist »nasraya« das Synonym für das griechische nasarenos oder nasoraios, also Jesus von Nazareth oder Jesus der Nasoräer. Oder, wenn man so will, auch die syrisch-aramäische Bezeichnung für die Anhänger Jesu.

Das hebräische נָזִיר (nāsîr) bezeichnet zunächst einmal jemanden, der sich absondert, im erweiterten Sinne etwa einen Asketen. Es gibt aber auch den Wortsinn »Geweihter«, und so verstanden sich offenbar die Christen in Syrien. Der Kirchenvater Hieronymus bezeichnete eine judenchristliche Gruppierung um Aleppo als »Nazareni«. Einige Autoren halten Nusairier oder »Nassairier« für Quarmaten[4] (Jean Jacques Rousseau[5]) oder Johannisjünger (Carsten Niebuhr) [6]. In der Bezeichnung für Jesus als Nazōraios klingt noch die hebräische Wurzel er (= Sproß) an, gemäß Jes. 11,1.

Doch auch die sog. Mandäer, die mit der persischen Eroberung im mesopotamischen Gebiet der Zanĝ entstanden, die sich auf Johannes den Täufer zurückführen und denen Jesus als falscher Prophet galt[7], wurden gelegentlich als Nazoräer bezeichnet (von aramäisch »nazar« (= bewahren, be(ob-)achten, bewachen) – womit wir wieder bei den »Wächtern« sind! Wie viele andere solcher Gruppierungen sollen sie sich einer Eingliederung in die byzantinische Reichskirche widersetzt haben. Aus heutiger Sicht lässt es sich kaum mehr klären, ob es sich tatsächlich um gleiche urchristliche Richtungen handelt oder Verwechslungen vorliegen, die unterschiedlichen Transkriptionen geschuldet sind.

Hieronymus schrieb auch über eine christliche Sekte, die griechisch Ophiten oder auch Ophianer genannt wurde (von altgriechisch ὄφιςóphis = Schlange) oder hebräisch Naasseni (von hebräisch נחש [naħaš], im heutigen Hebräisch nachasch = Schlange). Doch der Wortstamm hat ebenso wenig etwas mit »nasar« oder »er« zu tun wie die »Nusairier«. Denn diese im 9. Jh. im Irak entstandene schiitische Sekte, die man heute als Alawiten kennt, eine reine Männerreligion, zu der Frauen keinen Zutritt haben (nicht zu verwechseln mit den Aleviten), hat sich wohl ursprünglich nach ihrem Gründer benannt. Diese Bezeichnung »Nusairier/Nusairis« geht zurück auf einen Muhammad ibn Nusair, einem Gefährten des elften Imam Hasan al-Askari. Diesem Ibn Nusair wird nachgesagt, dass er dem Imam Göttlichkeit zugesprochen hätte, von ihm als Prophet erkoren wurde und auch sein »Tor« (arab. bab) sei: die Gläubigen würden nur durch ihn zum Imam gelangen.[8]

Die Unterscheidung Nasoräer und Nazarener wird genau genommen weder aus dem Hebräischen noch dem Aramäischen, sondern vielmehr aus dem Griechischen abgeleitet. Letztlich ist es wohl eher eine Entscheidung auf Basis einer theoretischen Annahme, aber keine etymologische oder historisch zwingende Erkenntnis. Im Englischen findet man z.B. überhaupt keine strikte Differenzierung von »nazorean« und »nazarene«, da die Bezeichnung weitgehend synonym verwendet werden. Oder anders gesagt: man kann aus der Verwendung des Epithets »nazorean« im Englischen nicht folgern, dass damit keine geografische Verortung im Sinne von »from Nazareth« gemeint ist. Daher ist es nicht auszuschließen, dass es sich gerade wegen der Festlegung auf das griechische nazoraios letztlich doch nur um rein geographische Bezeichnung gehandelt haben mag.

In einer wenig beachteten Studie hat Alfred Schmidtke 1911[9] nachgewiesen, dass sowohl Epiphanius als auch Hieronymus ihr Wissen über die Nazoräer anscheinend aus derselben Quelle schöpften. Ob es nun de facto überhaupt kein »hebräisches« Evangelium oder eines oder gar mehrere waren – aller Wahrscheinlichkeit nach bezogen sich beiden Autoren auf heute verlorene Kommentare zu Jesaja, zum Epheserbrief und zu Matthäus des Bischofs Apollinaris von Laodicaea. Bestenfalls stammte daher wohl alles aus zweiter Hand, wurde dafür aber nach Kräften ausgeschmückt. Petri Luomanen argumentiert, dass die Beschreibung und Verurteilung der Nazarener durch Epiphanius „reine Fiktion“ ist. Er behauptet, Epiphanius habe sich die Merkmale dieser Gruppe ausgedacht, weil er das Judenchristentum „in seiner ‚reinen Form‚“ verurteilen wollte, nicht nur die (in Epiphanius‘ Augen) offensichtlich häretischen Ebioniten.[9a]

Und auch diese Annahmen gelten nur für den Fall, dass es sich tatsächlich um authentische Texte des 3./4. Jahrhunderts handelt und nicht um Jahrhunderte später verfasste Schriften unter dem Namen der beiden Kirchenväter, wovon nicht nur ein später vielgeschmähter Universalgelehrter des 17./18. Jahrhunderts überzeugt war – nämlich der Jesuit Jean Hardouin.[10] Einem Sprachpuristen wie Hardouin dürfte das vernichtende Urteil des elsässischen Humanisten und Philologen Beatus Rhenanus (1485-1547) bekannt gewesen sein, der Epiphanius nach einem Quellenvergleich attestierte, er habe das Griechische ebenso schlecht wie das Lateinische beherrscht.[11] Und der britische Theologe Westcott bemerkte im 19. Jahrhundert, dass Hieronymus wie „ein Gelehrter des sechzehnten Jahrhunderts“ schreibt.[12]

Albrecht Dürer: Der hl. Hieronymus im Gehäus

Nach dem Zeugnis von Epiphanius und Hieronymus sollen die Nazoräer eine Gruppe jüdischer Jesusgläubiger gewesen sein, die in Beroea in Coelesyria in der Nähe der christlichen Gemeinde und ebenfalls einer starken jüdischen Gemeinde lebten. Darüber hinaus lokalisiert Epiphanius diese Gruppe auch in der Dekapolis in der Nähe von Pella und in Κωκάβη (Kochabe) in Basanitis.[13] Da das Panarion den Presbytern Acacius und Paulus, die darin als „Archimandriten oder Äbte in Chalcis und Beroea in Coelesyria“ bezeichnet werden, zugeeignet ist, legte dies die Vermutung nahe, diese Information würde stimmen.[14] Historisch gibt es dafür jedoch keinerlei Belege, zumal Vieles dafür spricht, dass die Flucht nach Pella ein reines Phantasieprodukt des Eusebius ist.[15] Man muss also wohl davon ausgehen, dass es sich eher um Versuche handelt, die Nazoräer einerseits mit dem angeblichen Exodus der judenchristlichen Gemeinde von Jerusalem nach Pella im Jahr 70 n. Chr. in Verbindung zu bringen, und andererseits mit den Ebioniten, deren Traditionen laut Epiphanius im Panarion in einem Ort namens Κωκάβη (Kokabe) gepflegt worden seien.[16]

Die meisten, wenn nicht sämtliche anderen patristischen und mittelalterlichen Autoren scheinen ihre Kenntnisse wiederum von Epiphanius und Hieronymus bezogen zu haben. Daher resümmierte Schmidtke:

„Für die Beurteilung der nazaräischen Gemeinde steht außer den NE-Varianten [den Lesarten des Evangeliums der Nazoräer] kein weiteres Material zu Gebote als die haltbaren Angaben bei Epiphanius und die exegetischen Proben bei Hieronymus, was beides durch Apollinaris bekannt gegeben war. Denn Hieronymus bietet, wo er sonst über Epiphanius bzw. dessen Quelle hinausgeht, nachweislich nur nichtige Fabeleien.[17]

Zwar argumentieren der amerikanische Bibelforscher Ray A. Pritz und der holländische Neutestamentler Albertus Klijn, dass zumindest die Auszüge aus dem nazoräischen Jesaja-Kommentar bei Hieronymus aus erster Hand stammen würden.[18] Die neuere Forschung geht aber nicht mehr davon aus, „dass die von ihm angeführten Beweise schlüssig sind.“[19] Das ist deshalb keineswegs unwichtig, weil der von Klijn besprochene Nazarenerkommentar zu Jesaja aus lediglich fünf Zitaten eines Nazarenerkommentars zu Jesaja besteht, die in Hieronymus‘ Jesajakommentar aus dem vierten Jahrhundert erhalten sind. Dieser Nazarenerkommentar wäre so eines der ganz wenigen Zeugnisse der Nazarenerliteratur, die bis in die Neuzeit überlebt hätten. Es handelt sich entweder um einen nazarenischen Midrasch oder einen nazarenischen Targum zu Jesaja. Und er scheint eine Feindseligkeit zwischen dem nazarenischen Judentum und dem rabbinischen Judentum auszudrücken, die somit bereits im vierten Jahrhundert bestanden hätte. Denn aus dem Kommentar geht hervor, dass die nazarenischen Juden des vierten Jahrhunderts die pharisäische/rabbinische Halacha nicht akzeptierten. Irgendwelche darüber hinaus gehende historisch-archäologische Beweise für die Existenz einer solchen Sekte konnten bisher nicht gefunden werden.

Epiphanius unterscheidet zudem die Nasoräer (Ναζωραίοι) von den Nasiräern (Ναζιραΐοι.[20] Die einen hält er für die Gemeinschaft der Israeliten, die speziell dem Dienst Gottes geweiht sind (hebr. מרים ;נזירים), in den anderen sieht er eine jüdischen Sekte, die sich ihm zufolge selbst Nasaräer (Νασαραΐοι) nennt.[21] Letztere haben nach der Beschreibung von Epiphanius in Pan. 18 das mosaische Gesetz vom Pentateuch unterschieden, Opfer abgelehnt und vegetarisch gelebt. Das scheint dieselbe Gruppierung zu sein, die Hieronymus entweder Nazareni oder Nasar(a)ei nennt, aber auch andere Schreibweisen wie Nasorei oder sogar Nasarini sind in den Manuskripten der Werke dieses Kirchenvaters bezeugt.

Doch Hieronymus scheint auch gelegentlich von der Gemeinschaft der Israeliten zu sprechen, so bemerkt er z.B. in einer rätselhaften Passage in Comm. Isa. 4.13. zu Jes 11,1b ונצר משרשיו („Doch aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Reis hervor“), dass die Nasarei immer mit dem Buchstaben zain geschrieben wurden und von der Septuaginta mit »geheiligt« und von Symmachus mit »abgesondert« übersetzt wurden. Hier scheint Hieronymus allerdings נוצרי (von נצר) und נזיר (von נזר = weihen) zu verwechseln. Einige Autoren gehen bei der Besprechung dieser Stelle wohlweislich erst gar nicht auf die von Hieronymus vorgeschlagene Etymologie ein, da sie im direkten Widerspruch zu der des Epiphanius steht.[22] An einer Stelle behauptet Hieronymus sogar, die Bibliothek von Caesarea habe ein Exemplar des aramäischen Evangeliums (eine Art Ur-Matthäus) besessen, er habe es kopiert und mithilfe seines jüdischen Famulus (er selbst konnte ja praktisch kein Hebräisch oder Aramäisch) ins Griechische und Lateinische übersetzt.[23] Er zitiert sogar aus diesem Evangelium, das er den „Nazareni“ bzw. „Nazarei“ zuschreibt:

 „In evangelio quo utuntur Nazareni et Hebionitae…“ [Im Evangelium, das die Nazarener und die Hebioniten verwenden …]

„… iuxta evangelium quod hebraeo sermone conscriptum legunt Nazarei“ [Aber auch im Evangelium, das den Hebräern zufolge die Nazaräer lesen]

„In Evangelio iuxta Hebraeos, quod Chaldaico quidem Syroque sermone, sed Hebraicis litteris scriptum est, quo utuntur usque hodie Nazareni…“ [Im Evangelium, das laut den Hebräern in chaldäischer und syrischer Sprache geschrieben ist, aber mit hebräischen Buchstaben, die die Nazarener noch heute verwenden …]. [24]

Pritz und auch schon Schmidtke lange vor ihm haben dies als Erfindung entlarvt, da die Erläuterungen des Hieronymus lediglich Origines‘ Kommentar zu Matthäus paraphrasieren würden.[25]  Während Epiphanius eher nach dem Motto »Nichts genaues weiß man nicht« verfährt, heißt es in einem Brief des Hieronymus an Augustinus, „dass sie [die Nasorei] an Christus glauben, den von der Jungfrau Maria geborenen Sohn Gottes, und sie sagen von ihm, dass er unter Pontius Pilatus gelitten hat und auferstanden ist“.[26]

Aus den Texten der gedruckten Ausgaben lassen sich also keine eindeutigen Schlussfolgerungen ziehen. Ein Blick in das Stichwortverzeichnis der Hieronymus-Neuausgabe von Roger Gryson et al.[27] zeigt die Variabilität der bezeugten Lesarten allein in Hieronymus-Manuskripten:

Nazarenorum, Nazerenorum, Nazarei, Nazoraei, Nazareni, Nazoreni, Nazarei, Nazaraei, Nazarei, Nazoraei, Nazarei (zweimal), Nazor(a)ei (zweimal), Nazarei, Nazor(a)ei, Nazareni, Nazarei, Nazor(a)ei, Nazorai, Nazei, Nazarei, Nazorei; Nazaraei; Nazareth/Nazoreth, Nazarenorum, Nazorenorum, Nazarinorum, Nazarenorum, Nazorenorum, Nazareni, Nazarei, Nazaraeis, Nazaraei.

Die Vulgata kennt eigentlich nur Nazarenus/Nazare, aber trotzdem existieren Manuskripte mit anderen Lesarten wie nazarei oder nazorei (Apg 26,9). Und bei Tertullian heißt es: „Nazaraeus uocari habebat secundum prophetiam Christus creatoris. Vnde et ipso nomine nos Iudaei Nazarenos appellant per eum“ [Er musste gemäß der Prophezeiung von Christus, dem Schöpfer, ein Nazarener genannt werden. daher bezeichnen uns die Juden auch als Nazarener.][28]

Im griechischen Neuen Testament wird manchmal der Begriff Ναζωραίος anstelle von Ναζαρηνός verwendet. Markus bietet ausschließlich die Form Ναζαρηνός (1:24; 10:47; 14:67; 16:6). Matthäus und Johannes verwenden durchweg nur die Form Ναζωραίος (Mt 2,23; 26,71; Joh 18,5.7; 19,19). In der Apostelgeschichte werden jedoch beide Begriffe verwendet; wenn der Autor seiner Quelle folgt, verwendet er Ναζαρηνός (Lk 4,34 [vgl. Mk 1,24]; 24,19), während sein redaktioneller Sprachgebrauch an der Wahl der Form Ναζωραίος zu erkennen ist (Lk 18,37; Apg 2,22; 3,6; 4,10; 6,14; 22,8; 24,5; 26,9). Auf den Begriff Ναζαρηνός, der immer auf Jesus, aber nie auf seine Jünger angewandt wird, muss hier nicht näher eingegangen werden. Was auch immer der Grund dafür gewesen sein mag, dass Matthäus Ναζωραίος mit Nazareth in Verbindung brachte, der Name der Christen in der Apostelgeschichte wird kaum so verstanden worden sein, dass er sich auf diese Stadt bezog, da „die überwiegende Mehrheit der jüdischen Christen sicherlich nicht aus Nazareth stammte und auch nicht als solche wahrgenommen wurde; auch war Nazareth im ersten oder zweiten Jahrhundert kein herausragendes Zentrum des Christentums“.[29] Was Ναζωραίος betrifft, so sind die wichtigsten Passagen Mt 2,23 und Apg 24,5. In Mt 2,23 heißt es von Josef: „Er ging hin und wohnte in einer Stadt, die Nazareth heißt, damit sich erfülle, was durch die Propheten gesagt ist: ‚Er soll ein Nazoräer genannt werden‘ (Ναζωραίος).“

Also fassen wir doch einmal zusammen! Wenn man die spärlichen Informationen zusammenträgt, dann finden sich folgende Charakterisierungen bei den Kirchenvätern:

  • Die Nazoräer oder Nasiräer lehnten nicht nur die von den Pharisäern geschätzten mündlichen Überlieferungen ab, sondern sie hatten auch eine sehr klare Vorstellung von der Heilsgeschichte. Diese gliedert sich in drei Etappen: die Verkündigung Christi in Galiläa, die Verkündigung des Paulus in den Mittelmeerländern und die Ausbreitung des Evangeliums über die ganze Welt. Heidenchristen betrachteten sie nicht als minderwertig und können folglich von ihnen nicht die Erfüllung der mosaischen Satzungen als Bedingung für den Beitritt zum Christentum verlangt haben.
  • Die Nazoräer waren demnach Judenchristen in der klassischen Definition des Begriffs: Sie waren geborene Juden, die das Gesetz aus Tradition hielten, aber an Christus glaubten. Außerdem verlangten sie von den Heiden nicht, dass sie ihrem Beispiel folgen. Folglich betrachteten sie das Gesetz nicht als notwendig für die Erlösung und lehnen sich an Paulus‘ Lehre an: Nicht die Einhaltung des Gesetzes, sondern die Barmherzigkeit Gottes rettet die Menschen.

Im Grunde tritt hier eine Mischung aus verschiedenen Gruppierungen zutage: Mit den Pharisäern teilten sie den Glauben an die Auferstehung. Mit den Sadduzäern waren sie kritisch gegenüber der mündlichen Auslegung des Gesetzes. Und mit den Christen teilten sie den Glauben an Christus, ein Glaube, der die Einhaltung des Gesetzes zwar nicht überflüssig machte, aber es aber erheblich relativierte. Daher lag Epiphanius mit seiner Einschätzung wohl ganz richtig: Sie unterscheiden sich von den Juden und von den Christen nur in folgendem Punkt: Sie stimmen nicht mit den Juden überein, weil sie zum Glauben an Christus gekommen sind; sie stimmen nicht mit den Christen überein, weil sie noch an das Gesetz gebunden sind – Beschneidung, Sabbat und die Ruhe.[30]

Schmidtke geht in seiner Spekulation sogar noch weiter: „Demnach sind die Nazoräer nicht anders zu bestimmen denn als der späterhin abgesonderte judenchristliche Teil der ursprünglich gleich der Gemeinde von Antiochien (Gal. 2) aus geborenen Juden und Heiden gemischten Gemeinde von Beröa. Diese Christen jüdischen Volkes waren durch die Verhältnisse dazu gedrängt worden, sich zu einem eigenen Verein zusammenzutun, in dem sie ungestörter die alte nationale Sitte pflegen konnten.“[31]

Nur – belegen lässt sich all das nicht!

Skepsis ist also angebracht, denn je nachdem, wer gerade unter dem Namen Epiphanius geschrieben hat, fallen die Urteile über diese Judenchristengruppe(n) anders aus. Einerseits werden drei aufeinanderfolgende Phasen der Entwicklung der Gruppe unterschieden:

(1) Zunächst wurden alle Christen Nazoräer genannt (Epiphanius, Pan. 29.1.2-3).

(2) In einer zweiten Phase, nämlich „nach der Himmelfahrt des Erlösers und nachdem Markus im Land Ägypten gepredigt hatte“ (Epiphanius, Pan. 29.5.4), wurden die Christen Jessäer (oder Jesuaner) genannt. Er identifiziert diese Gruppe mit den von Philo beschriebenen Essenern. Ein Teil soll sich aber abgespalten haben und den Namen Nazoräer beibehalten haben. (Epiphanius, Pan. 29.5.4; vgl. auch 29.7.1)

(3) Schließlich begannen die „Jünger in Antiochia, sich Christen zu nennen“ (Epiphanius, Pan. 29.1.3; vgl. Apg 11,26).

Andererseits gibt es bei Epiphanius aber auch eine andere, konkurrierende Erklärung. Er behauptet, die »Sekte“ der Nazoräer habe ihren Namen von der Herkunft Jesu aus Nazareth (vgl. Apg 2,22). Sie „nahmen diesen Namen an, so dass sie sich Nazoräer“ (Epiphanius, Pan. 29.5.6; auch 29.7.1). Das klingt, als sei der Name eine Selbstbezeichnung einer bestimmten Gruppe von Judenchristen.

Und dann darf natürlich nicht fehlen, dass die Juden diese Judenchristen verfluchen: Bereits Epiphanius berichtet in einem Zusatz zu seiner Notiz über die Nazoräer in Pan 29.9.2, dass die Juden dreimal am Tag aufstehen, wenn sie in den Synagogen ihre Gebete sprechen, und sagen: „Gott verfluche die Nazoräer.“ (έπικαταράσαι ό θεό του Ναζωραίου)

Ins selbe Horn stößt auch Hieronymus. In einem auf das Jahr 404 n. Chr. datierten Brief an Augustinus schreibt er:

Bis zum heutigen Tag ist in allen Synagogen des Ostens unter den Juden eine Ketzerei zu finden; sie wird ‚von den Minäern‘ genannt und von den Pharisäern bis heute verflucht. Gewöhnlich werden sie Nazoräer genannt“ (Epist. 112.13)

Aber auch dieser Kirchenvater leidet anscheinend unter Gedächtnisschwund, denn an anderen Stellen dehnt er dieses Verdikt auf die ganze Christenheit aus:

„. . bis heute lästern sie in ihren Synagogen das christliche Volk unter dem Namen der Nazoräer…

„… bis heute verharren sie in ihren Lästerungen und verfluchen dreimal am Tag in allen Synagogen den christlichen Namen unter dem Namen Nazoräer.“

„… denn sie verfluchen ihn [Christus] in ihren Synagogen dreimal am Tag unter dem Namen der Nazoräer.“[32]

Verlässliche Zeugen scheinen mir diese beiden Kirchenväter nicht zu sein. Denn die dürre und auch oft widersprüchliche Quellenlage ließ eine eindeutige Bestimmung dieser Sekte der Nazoräer einfach nicht zu. Bis man im Frühjahr 1947 auf Handschriftenfunde stieß, die eine neues Licht auf die ganze Sache zu werfen schienen – obwohl es anfangs gar nicht danach aussah.

Die Höhlen bei Qumran

An einem Frühlingstag des Jahres 1947 kletterten Muhammed edh-Dhib und zwei andere Jungen vom Stamm der Ta’amira-Beduinen einen Steilhang an der Westküste des Toten Meeres herunter, um – so hat er es später zumindest erzählt – eine entlaufene Ziege mit Steinwürfen aufzuschrecken. Aber vielleicht suchte er bloß nach einem passenden Versteck für Schmuggelware, die die Beduinen in jenen Tagen von Jordanien nach Palästina brachten? Auf jeden Fall brachte er einen Stein ins Rollen, der bis heute weltweit die Forschung beschäftigt.

Etwa 1,5 km nördlich von der uralten Ruine Qumran hatte er anscheinend eine besonders kleine Höhlenöffnung entdeckt. Als er einen Stein hineinwarf, hörte er, wie Ton zersprang. Und nachdem er sich durch den Eingang gezwängt hatte, fand er 50 Tonkrüge, alle etwas über einen halben Meter hoch und sorgfältig an der Wand aufgereiht. Nur leider keinen verborgenen Schatz! In den Tonkrügen waren bloß ein paar völlig verklebte und angeschwärzte Lederrollen, sonst nichts. Da auch seine Stammesbrüder mit den Schriftzeichen auf den alten Rollen nichts anzufangen wussten, ahnten sie nicht, dass diese Rollen wertvoller als Gold und Silber waren. Nach vergeblichen Versuchen bei einigen Händlern verkauften die Beduinen ihren Fund an den Metropoliten Athanasius Yeschue Samuel von der syrisch-orthodoxen Gemeinde – für 50 Pfund (nach heutigem Wert ungefähr 253 €). Nur ein paar Jahre danach bezahlte der Staat Israel dem Bischof 250.000 $ für seine Rollen! Nicht, dass der gerissene Erzbischof genau gewusst hätte, was er da eigentlich angekauft hatte; aber wenigstens war ihm sofort klar, dass die Rollen hebräische Schriftzeichen enthielten. Bis er durch einen Mitbruder im Februar 1948 den jungen amerikanischen Gelehrten John C. Trever traf, der völlig aus dem Häuschen geriet, als ihm dämmerte, was er da in Händen hielt.

Schriftrolle Jesaja

Die längste der Schriftrollen entpuppte sich als eine Abschrift des Prophetenbuches Jesaja. Aus der Form der Buchstaben konnte man schließen, dass die Rolle aus dem 1. oder 2. Jahrhundert v.Chr. stammen musste. Damit lag die älteste komplette Abschrift eines Bibelbuches auf Hebräisch vor. Auch 1991 und 1994 durchgeführte Radiokarbon-Datierungen bestätigten das Alter.

Der britische Semitist John Allegro, der die Ausgrabungen in Höhle IV leitete und den Nahum-Pescher übersetzte (auch wenn er sich da mit dem genialen Entzifferer Pater Józef Milik nicht so ganz einig war), verlor über seine Forschungen seinen Glauben, sodass sowohl der Direktor der École biblique et archéologique française de Jérusalem, der Dominikaner Roland de Vaux, als auch der polnische Bibelwissenschaftler Milik sich von ihm abwandten, als er 1967 mit far-fetched theories wie den „sacred mushrooms“ essenden Qumranern ein wenig abdriftete.

„What?“, the reporter inquires. „The Prophets on LSD?“ – „’Yes indeed‘, says Allegro, ‚or something very like that. They had visions. They went on a trip.’”[33]

Doch bis es zum Bruch kam, verging noch eine gewisse Zeit, in der zunächst über Allegros Skandalbuch Die Botschaft vom Toten Meer diskutiert wurde, in dem er eine Theorie unterbreitete, die er mit dem Ausgrabungsleiter de Vaux durchaus teilte. Mit Bezügen auf die bei Plinius, Josephus und Philo von Alexandria erwähnten Essener entwickelte er hier erstmals die Geschichte von der Qumran-Sekte und ihrem »Lehrer der Gerechtigkeit«. Die in Qumran gefundenen Schriftrollen bzw. die Abertausende von Schipseln einstiger Rollen wurden dieser »Bewegung der Essener« zugeordnet, als deren Mitglied Allegro auch Johannes den Täufer identifizierte. Ja, er stellt in seinem Buch sogar die Hypothese auf, „daß Johannes als Knabe von der Qumran-Sekte adoptiert worden sei“[34] (S. 147),  dass „die Qumran-Bibliothek“ das Johannes-Evangelium stark beeinflusst habe.[35] Und auch, dass Jesus vom Leben und Gedankengut diese Qumran-Sekte zumindest stark beeinflusst gewesen sei, ohne dass er ihn allerdings deshalb gleich zum Essener erklärte. Aber sein Handeln und seine Charakterisierung in den Evangelien sei, recht verstanden, die Lebenswelt der Qumran-Sekte. Jedenfalls hätten beide, die Essener und Jesus, mit dem Auferstehungs-Narrativ bei Paulus – für Griechen sehr eingängig – absolut nichts anzufangen gewusst, wäre es ihnen bekannt gewesen.

Allegro verdanken wir u.a. den Hinweis, dass das griechische Wort Τέκτων, das bei Matthäus für Joseph und bei Markus für Jesus selbst verwandt wird und auf Deutsch gewöhnlich mit „Zimmermann“ übersetzt wird, auf Hebräisch חרש heißt. Masoretisch kann man das je nach Vokalisation sowohl als Harasch (Handwerker) wie als Heresch (Magier) lesen.

In der Folgezeit wurden in etlichen populärwissenschaftlichen bis hin zu esoterischen Publikationen die Essener mit den Nazoräern verknüpft, sodass der Nazoräer Jesus, seine Lehre und seine Anhänger immer weiter in diesen Dunstkreis gerieten. Doch auch ausgewiesene Wissenschaftler wie die Amerikaner Robert Eisenman und Michael Wise mochten sich Spekulationen nicht verschließen: Das Urchristentum sei eine Bewegung von »Zeloten«, also von nationalistischen Juden des  ersten Jahrhunderts n. Chr., die zu gewaltsamem politischem Umsturz und zu vorbereitenden Gewaltaktionen bereit sind, um die Römer aus Palästina zu vertreiben. Der Herrenbruder Jakobus (vielleicht sogar Jesus selbst) sei der in den Qumran-Schriften er­wähnte »Lehrer der Gerechtigkeit«.[36] Die Gemeinde von Qumran wiederum sei identisch mit der christlichen Urgemeinde „und Paulus ein V-Mann der Römer[37]. Das Urchristentum war demnach voll von Spannungen und Konflikten zwi­schen Paulus und Jakobus. Und Jesu Bruder Jakobus war keineswegs nur dem jüdischen Gesetz ergeben, sondern extrem militant, gewaltbe­reit und fremdenfeindlich. Paulus aber wird bei Eisenman als Zerstörer des Judentums und Feind des Gesetzes gezeichnet. Michael Baigent und Richard Leigh haben dies in ihrem Bestseller Verschlusssache Jesus[38] begierig aufgegriffen und damit wiederum Dan Brown inspiriert.

Ich glaube, es ist an der Zeit, sich von solchen Deutungen des Rebells Jesus ebenso zu verabschieden wie von romantischen Vorstellungen einer Veggie-Gemeinde in Qumran, als »Essener« die geheimen Ohrflüsterer für Jesus oder auch seine »nazoräische« Fangemeinde, die in die Fünftausende ging und dennoch in der Historiographie keinen Niederschlag fand. Bereits 1969 musste Edmund Wilson sein Mitte der 50er Jahre erstmals erschienen Buch über die Qumran-Rollen[39] vollständig überarbeiten bzw. erheblich erweitern[40], weil sich zeigte, dass die erste Generation der Forscher ein Zerrbild gezeichnet und mehr in die Funde hineingelesen hatte, als sie tatsächlich hergaben. Denn es zeichnete sich ab Mitte der 1960er Jahre schon ab, dass die Höhlen ganz unterschiedliche Textschnipsel in mehreren Sprachen (Altgriechisch, Aramäisch und Hebräisch) beherbergten, die unmöglich bloß die Glaubensvorstelllungen einer kleinen Gruppe von Qumran-»Essenern« repräsentierten, was zuvor überbewertet worden war.[41]

Der Theologe Klaus Berger hat noch in anderer Hinsicht ein wenig Licht in die Sache gebracht, indem er die Transkriptionseigenheiten des Griechischen, die auch in der Septuaginta zum Ausdruck kommen, heranzieht, um die Lautverschiebung des hebräischen Jod zum griechischen Omega zu erklären. Das ist deswegen nicht unwichtig, weil das Griechische den Ausdruck nicht kennt und deshalb nur phonetisch übernimmt. „Die LXX kennt das Wort ναζιραΐος [Naziraios] an nur vier Stellen (Jdc A 13,5-7; 16,17; Thren 4,7) und betrachtet es offensichtlich als unübersetzbares, aber erklärungsbedürftiges Lehnwort.“[42] Eine gräzisierende Transkription, die der regelmäßigen griechischen Adjektivendung -ωραίος entspricht, ist auch für andere Fälle belegt. Das Ganze wird dadurch allerdings nicht besser. „Denn ein entsprechendes Wort ist im Hebräischen oder Aramäischen nicht belegt und auch nicht daraus herzuleiten.

Deutlich wird dies an einer der rätselhaftesten Stellen des AT, in den Klageliedern 4,7:

Εκαθαριώθησαν ναζιραῖοι αὐτῆς ὑπὲρ χιόνα, ἔλαμψαν ὑπὲρ γάλα, ἐπυρρώθησαν ὑπὲρ λίθους σαπφείρου τὸ ἀπόσπασμα αὐτῶν [Sie reinigten die Nasiräer davon mit Geißblatt, sie löschten es mit Milch, sie heilten es mit Saphirsteinen, dem Bruchstück davon.] Berger übersetzt anders: „Es wurden rein gemacht ihre Nasiräer heller als Schnee“.[43]

„Schon die Evangelisten hatten ihre Schwierigkeiten damit; daher legen sie ihren Lesern nahe, das Wort Nasorier wie das Wort Nazarener mit Nazareth zu verbinden.“[44] So etwa bei Mk 1,9 und 1,24, wodurch das Problem jedoch abermals nur verlagert wird, da auch ein Ort Nazareth weder im AT noch im älteren Judentum belegt.

„Die Herleitung von נצר ‚Wurzel/Sproß‘ (Jes. 11:1) krankt daran, daß das Wort für sich genommen eine Rätselmetapher bliebe. ‚Wurzel/ Sproß‘ war nie Name des Messias. Die Herleitung vom mandäischen Wort nasuraia („Observant einer Religion”) muß erst eine hebräische Wurzel postulieren, ohne dann doch die Vokalisation aus dem Hebräischen oder Aramäischen erklären zu können.“[45]

Eher beiläufig aber bringt Berger selbst einen entscheidenden Hinweis: das sog. Nasiräat[46] – ursprünglich gemäß Hebräischem Recht ein altes Weiheamt für Laienpriester/innen im Judentum. Seine Rituale gehen zurück auf das 4. Buch Mose (Numeri), wo sie detailliert beschrieben werden. Hier werden die Nasiräer-Gelübde festgelegt.

Ein solches zeitlich befristetes Gelübde konnten Männer oder Frauen ablegen, die vorübergehend auf den Genuss von berauschenden Getränken, Trauben, Rosinen und Fleisch verzichten wollten. Außer dieser Enthaltsamkeit beim Essen und Trinken durften diese Laienpriester oder „Nasiräer“ ihr Haupthaar nicht mehr schneiden, sich nicht rasieren und durften keine Toten berühren. Also eine Art Asketentum auf Zeit.

Rückfällige bekamen sogar eine zweite Chance. Falls es doch passierte, dass die Geweihten während ihres Nasiräats unrein geworden waren, konnten sie mit Hilfe eines Reinigungsrituals innerhalb von sieben Tagen wieder rein werden. Sie gaben dazu Sünd- und Brandopfer an den Priester eines Offenbarungszeltes (= eine Art religionsrechtlich anerkanntes Reisepriestertum). Nach Durchführung eines festgelegten Reinigungsrituals erklärte der Priester die Nasiräer wieder für gereinigt. Dann begann die Zeit des Nasiräats als zweiter Versuch wieder von vorn.

Um diese Zeit als Asket oder Asketin zu beenden, waren zahlreiche – durchaus kostspielige! – Opfergaben zu leisten: zwei Lämmer, ein Widder, ein Korb mit ungesäuerten Kuchen und Broten sowie weitere Speise- und Trankopfer. Der Priester bereitete diese Opfergaben zu, der Nasiräer schnitt am Eingang zum Offenbarungszelt sein geweihtes Haupthaar ab und verbrannte es im Feuer unter dem Heilsopfer (Widder).[47] Die asketische Zeit wurde so rituell beendet und der/die Geweihte durfte nun wieder Wein trinken und Fleisch essen.

Anscheinend war dieses Nasiräat eine sehr alte, nomadische Form der semitischen, asketischen Glaubensbewegung für junge, motivierte Laienpriester beiderlei Geschlechts. Im Lukas-Evangelium wird das Nasiräat für Johannes den Täufer ab seiner Geburt vorhergesagt (Lukas 1,15). Lukas zeichnet Johannes mit den gleichen asketischen Eigenschaften wie Simson aus. Die Heuschrecken, von denen er sich ernährte, galten nämlich nicht als Fleisch. Wie Simson schneidet auch er sich nicht die Haare. Wie übrigens auch der Herrenbruder Jakobus, der ebenfalls als Nasiräer kein Fleisch und keinen Alkohol zu sich nahm. Folgt man der weitgehend philologisch begründeten Indizienkette Friedrich Horns, so hätte auch Paulus von Tarsus vor seiner Verhaftung das Nasiräat abgeleistet (ApG 21, 18-27).[48]  So erlangten damals vielleicht die ersten Judenchristenführer ihre Priesterweihe – rituell abgeleitet vom untergehenden judäischen Priesterkönigtum. Zumindest wird es im Chassidismus ähnlich überliefert.

Und so ist es auch bei den Nasaraioi des Epiphanius: Sie fasteten, widersetzen sich dem Fleischgenuss und deshalb auch blutigen Opfern. Anscheinend hat es im Umkreis des Frühjudentums und des frühen Christentums eine Reihe von Gruppen gegeben, die sich Nasiräer oder ähnlich nannten.

Winzige Bruchstücke der Qumran-Rollen

So lösen sich allmählich auch moderne Legenden auf. Der christliche Glaube lässt sich auch ohne »Nazoräer-Sekte« leben. Das Neue Testament in der heutigen Form ist nun einmal eine durchkomponierte hochkomplexe Mischung von Dichtung und Wahrheit, und zu einem guten Teil stark redaktionell bearbeitete literarische Fiktion.

Seit dem Erstarken der DNA-Analysen tritt die Qumran-Forschung in eine neue Phase, die beileibe noch nicht abgeschlossen ist. Denn statt in einer schier unglaublich quälenden Prozedur mit geradezu detektivischem Spürsinn kleinste Schnipsel von Pergamenten zusammenzufügen, lassen sich heute die Partikel den ursprünglichen Häuten (wie man jetzt feststellte: nicht nur Ziegen-, sondern auch Kuhleder) präzise zuordnen, sodass man sich von einigen Puzzeln gerade wieder verabschieden muss, da sie offenbar unterschiedlichen Pergamenten entstammen; obwohl sich herausgestellt hat, dass tatsächlich vieles aus der Gegend ums Tote Meer stammt und sogar in einigen Fällen die Tinte mit Wasser aus demselben angerührt worden war. [49]

Die Karten werden also gerade mal wieder neu gemischt.

(überarbeitete Fassung August 2023)

 

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Anmerkungen

[1] Ungeachtet seines Namens ist der Birkat haMinim (hebr. ברכת המינים „Segen über die Ketzer“) tatsächlich eine Verfluchung der Ketzer, die Teil der rabbinischen Liturgie ist. Es ist der zwölfte in einer Reihe der achtzehn Segenssprüche (Achtzehngebet – Schemone Esre), die den Kern der vorgeschriebenen täglichen Gebete orthodoxer Juden bilden. Vgl. Ruth Langer: Cursing the Christians? A History of the Birkat HaMinim. Oxford 2001; meine hier angestellten Überlegungen verdanken viel dem ausgezeichneten Artikel von Wolfram Kinzig: The Nazoreans (wie Anm. 14).

[2] Johann Maier, Jesus von Nazareth in der talmudischen Überlieferung. Darmstadt 1992, S. 270f

[3] „1,2 Denn diese Leute gaben sich nicht den Namen Christi oder den Namen Jesu, sondern den der „Nazoräer“. Damals aber wurden alle Christen gleichermaßen Nazoräer genannt. Für eine kurze Zeit, bevor die Jünger in Antiochia begannen, sich Christen zu nennen, nannte man sie auch „Jessäer“. Aber man nannte sie Jessäer wegen Jesse, nehme ich an, denn David stammte von Jesse ab und Maria war eine Nachfahrin Davids. Damit wurde die Heilige Schrift erfüllt, denn im Alten Testament sagt der Herr zu David: „Von der Frucht deines Leibes will ich dich auf den Thron setzen.“ (Einar Thomassen & Johannes van Oort (Hg.): The Panarion of Epiphanius of Salamis. Buch I. Nag Hammadi and

Manichaean Studies. Bd. 63, Leiden/Boston 2009, S. 123 (Übersetzung von mir))

[4] Hendrich nennt sie „die lauteren Brüder von Bara“. Vgl. Geert Hendrich: Arabisch-Islamische Philosophie. Geschichte und Gegenwart, Frankfurt/M.  2005, S. 74; Detlev Quintern: Über den Humanismus bei Ihwan as-Safa. In: Polylog 18 (2007); S. 77-93

[5] Jean-Jacques Rousseau: Émile oder über die Erziehung (1762). Stuttgart 1998

[6] Carsten Niebuhr’s Reisen durch Syrien und Palästina, nach Cypern, und durch Kleinasien und die Türkey nach Deutschland und Dänemark (Bd. 3), Kopenhagen 1774

[7] Vgl. Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe,  Bd. 9, Altenburg 1857, S. 21, Artikel Johannisjünger

[8] Nachzulesen hier: https://lisa.gerda-henkel-stiftung.de/alawiten_aleviten

[9] Alfred  Schmidtke: Neue Fragmente und Untersuchungen zu den judenchristlichen Evangelien. Ein Beitrag zur Literatur und Geschichte der Judenchristen, Leipzig 1911

[9a] „Epiphanius’ description of the “heresy” of the Nazarenes in Panarion 29 is first and foremost a refutation of an idealized, stereotyped picture of people who try to be both Jews and Christians at the same time. (…) The heresy of the Nazarenes as it is depicted in Panarion 29 is pure fiction.” (Petri Luomanen: „Nazarenes“. In: Antti Marjanen & Petri Luomanen (Hg.): A Companion to Second-Century Christian „Heretics“, Leiden 2008, S. 279-314, Zitat auf S. 307f)

[10] Vgl. Jean Hardouin: Prolegomena zu einer Kritik der antiken Schriften, Kap. III (herausgegeben u. übersetzt von Rainer Schmidt), Norderstedt 2021, S. 102ff

[11] Martin Wallraff: Die Rezeption der spätantiken Kirchengeschichtswerke im 16. Jahrhundert. In: Grane. Leif et. al. (Hg.): Auctoritas Patrum. Neue Beiträge zur Rezeption der Kirchenväter im 15. und 16. Jahrhundert. Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte. Mainz 1998, Bd. 2., S. 228

[12] Brooke Foss Westcott (1825-1901) war ein englischer Theologe und seit 1850 Regius Professor of Divinity an der Universität Cambridge. Als Neutestamentler und Philologe griff er um 1860 zusammen mit Joseph Barber Lightfoot und Fenton John Anthony Hort die Methoden der evangelischen Tübinger Schule auf und entwickelte eine historisch-kritische Methode der Bibelforschung. Diese drei, Hort, Westcott und Lightfoot wurden auch als „Cambridge Triumvirat“ bezeichnet. Westcott nahm immer wieder engagiert Stellung zu den kirchlichen und politischen Themen seiner Zeit und zur sozialen Frage, auch nachdem er 1890 anglikanischer Bischof von Durham berufen worden war.

[13] Vgl. Epiphanius, Pan. 29.7.7; Hieronymus, Vir. ill. 3. Die Ortsangabe dürfte von Eusebius stammen (vgl. Anm. 16)

[14] Wolfram Kinzig: The Nazoreans. In: Oskar Skarsaune, Reidar Hvalvik (Hg.): Jewish Believers in Jesus. 2007, S. 471

[15] So Robert Grant in seiner Besprechung des Buches von Joseph Verheyden: De vlucht van de christenen naar Pella. Onderzoek van het getuigenis van Eusebius en Epiphanius. Brüssel 1988, zit. nach Kinzig (wie Anm. 24), S. 470

[16] Wo dieser Ort Κωκάβη (oder auch: Χωχάβη) gelegen haben soll, iwird jedoch nicht klar. In  Eusebius‘ Kirchengeschichte wird einzig von Julius Africanus (in Eusebius: Hist. eccl. 1.7.14) ein Dorf namens Κωχαβά erwähnt, was aber auch nicht zur Lokalisierung beiträgt.

[17] Schmidtke (wie Anm. 9), a.a.O., S. 123f

[18] Ray A. Pritz: Nazarene Jewish Christianity. From the End of the New Testament Period Until Its Disappearance in the Fourth Century. 1992, S. 60-62; ähnlich A. F. J. Klijn: Jerome’s Quotations from a Nazoraean Interpretation of Isaiah. In: RSR 60 (1972), S. 241-55

[19] Kinzig (wie Anm. 14), S. 476

[20] Epiphanius: Pan. 29.5.7; ; vgl. dazu die detaillierte Deutung der betreffenden Passagen im Paper von James Trimm: Ancient Nazarene Commentary on Isaiah. [https://www.academia.edu/9583880/Ancient_Nazarene_Commentary_on_Isaiah]

[21] Epiphanius: Pan. 29.6.1

[22] so z.B. Pritz (wie Anm. 18), S. 54 und Klijn (wie Anm. 18)

[23] Kinzig (wie Anm. 14),  S. 472

[24] Kinzig (wie Anm. 14), ebd. Weitere Zitate und Nachweise bei, S. 463-487

[25] Schmidtke (wie Anm. 9), S. 253-54; Pritz (wie Anm. 18), S. 56-57

[26] Hieronymus: Epist. 112.13

[27] Roger Gryson et al.: Commentaires de Jerome sur le prophete Isa’ie (5 Bde, Freiburg 1993-1999)

[28] Hieronymus: Adversus Marcionem IV

[29] certainly, the vast majority of Jewish Christians were not, and were not perceived to be, from Nazareth; nor was first-or second century Nazareth a prominent centre of Christianity. “ (Bockmuehl, Jewish Law, S. 44), zit. nach Kinzig (wie Anm. 14), S. 470

[30] Epiphanius, Pan. 29.7.5

[31] Schmidtke (wie Anm. 9), S. 124f

[32] zit. nach Kinzig (wie Anm. 24), a.a.O., eigene Übersetzung

[33] Interview mit John Allegro in der Daily Mail, 13.Okt. 1967; zit. nach Edmund Wilson: The Dead Sea Scrolls 1947-1967, Glasgow 1977, S.165

[34] John M. Allegro: Die Botschaft vom Toten Meer. Frankfurt 1957, S. 147

[35] Allegro (wie Anm. 34), S. 111

[36] Robert Eisenman & Mchael Wise: Jesus und die Urchristen. Die Qumran-Rollen entschlüsselt. München 1992

[37] Klaus Berger: Qumran und Jesus. Wahrheit unter Verschluss. Stuttgart 1993, S. 21

[38] Michael Baigent, Richard Leigh: Verschlusssache Jesus. Die Qumranrollen und die Wahrheit über das frühe Christentum. 1991

[39] Edmund Wilson: Die Schriftrollen vom Toten Meer. München 1956

[40] Meine Ausgabe aus dem Winkler-Verlag von 1956 hatte gerade einmal 129 großzügig bedruckte Seiten, die kleiner gedruckte Neuausgabe dagegen über 300.

[41] s. Wilson, The Dead Sea Scrolls, a.a.O., Kap. VII und XI

[42] Berger, Jesus als Nasoräer/Nasiräer. In: Novum Testamentum, Bd. 38, 4 (Okt 1996), S. 323-335, Zitat auf S. 324

[43] Berger (wie Anm. 42), S 329

[44] Berger (wie Anm. 42), S 323

[45] Berger (wie Anm. 42), S. 324

[46] Berger (wie Anm. 42), S. 326ff; siehe dazu im Detail: https://de.jurispedia.org/index.php?title=Nasir%C3%A4at

[47] Phi1o interpretiert das Nasiräat als unblutige Selbstweihe, in der das Haar als Ersatz ftir das Menschenopfer dargebracht wird. Vgl. Friedrich W. Horn, Paulus, das Nasiräat und die Nasiräer. In: Novum Testamentum, Bd. 39, 2(1997), S. 128

[48] Horn (wie Anm. 46), S. 117-137. Eine Sichtweise, die noch im 19. Jahrhundert aufs Schärfste abgelehnt wurde, wie ein Zitat des liberalen protestantischen Theologen August Hausrath bei Holthmann belegt: „Eher aber sei glaublich, dass . . . Calvin auf seinem Totenbette der Mutter Gottes einen goldenen Rock gelobt, als dass Pls solche Wege beschritten habe.“ (Heinrich Julius Holtzmann, Die Apostelgeschichte. Tübingen: 1901, 3. Aufl., S 133)

[49] Vgl. Timothy L. Stinson: Knowledge of the Flesh: Using DNA Analysis to Unlock Bibliographical Secrets of Medieval Parchment. In:  Papers of the Bibliographical Society of America, Bd. 103, 4 (2009), S. 435-453; Gila Kahila Bar-Gal: Genetic change in the Capra species of Southern Levant over the past 10000 years as studied by DNA analysis of ancient and modern populations. Unveröff. Diss., Jerusalem 2000; Saeid Naderi: Histoire évolutive de l’Aegagre (Capra aegagrus) et de la chèvre (C. hircus) basée sur l’analyse du polymorphisme de l’ADN mitochondrial et nucléaire : Implications pour la conservation et pour l’origine de la domestication. Diss. Grenoble 2007

2 Comments

  • Aleksi Gabor

    Danke für die vielen wertvollen Hinweise, aber das Kapitel Naza/o)räer ist damit für mich noch nicht abgeschlossen! Ich glaube, dass Epiphanius in 6.1-2 evtl. Recht hat, wenn er schreibt: „..die Nasaräer-Sekte war vor Christus und kannte Christus nicht“ [evtl. von Johannes dem Täufer gegründet? Eigene Anmerkung], und hielt sich mehr im Gebiet Galiläa und Samaria auf. Sie lehnten angeblich das Tempelopfer ab und auch das „Gesetz des Mose“, hielten sich aber an andere jüdische Gebräuche und behaupteten Mose, den sie verehrten, habe andere Gesetze erhalten als in der Tora. Johannes, der Täufer hat im Prinzip die Opfer im Tempel zur Vergebung der Sünden auch automatisch für sinnlos erklärt, wenn allein die Taufe durch ihn selbst den Israeliten Vergebung ihrer Sünden durch Jahwe bei seinem Endgericht bringen soll?!

    Das erinnert mich aber auch an die Tempelopfer-feindlichen vegetarischen Mandäer.
    Mark Lidzbarski, der die Ginza, das heilige Buch der Mandäer übersetzt hat, hält daran fest, „dass das Wort [Ναζωραίος] nicht einen Mann aus Nazareth bezeichnen könne, sondern eine Form aufweist, die sonst ausschließlich Vertreter eines Berufs, besonders einer bestimmten Lehrtätigkeit bezeichnet“!! In der Ginza (die ich selbst besitze) kommt das Wort Nazoräer recht oft vor, es ist die Selbstbezeichnung von Manda dHaije und seine Anhänger, die an den „hohen Lichtkönig“, den Gott der Wahrheit glauben. Aber auch das Wort „Nazarener“ kommt vor, was sich wohl tatsächlich auf Jesus aus Nazareth bezieht und seine eigenen Jünger. Christus wird in der Ginza vorgehalten, dass er nach der Taufe durch den Johannes die Taufe und Rede des Johannes verdreht hat und selbst vorgibt ein Nazoräer zu sein.
    Den Namen „Nazoräer“ gibt es also doch, vollig unabhängig von Jesus und Nazareth!
    Nazaräer könnte theoretisch auch vom altbabylonischen Wort „Nasaru“ oder „Nasiru“ stammen, was „Hüter des göttlichen Geheimnisses“ bedeutet.
    Es scheint auch Tora-freundliche Nazoräer gegeben zu haben, zu denen vermutlich der Herrenbruder Jakobus inkl. Mutter Maria und weitere Familienmitglieder von Jesus gehört haben, denn vermutlich waren sie ebenfalls von Johannes getauft. Oder sogar mit ihm verwandt? Aber da sie nun zudem an Jesus Auferstehung glaubten, wurden sie zwar zu Christen, aber in Jerusalem vielleicht trotzdem noch weiter Nazoräer genannt, evtl. solange bis alle Christen von vielen Juden so genannt wurden? Denn das Wort „Christen“ gab es damals noch gar nicht! Deswegen gab es aber immer noch pure Johannes-Jünger, die sich natürlich als die wahren „Nazoräer“ sahen und danach vielleicht die Christen zu hassen begonnen haben?
    Oder die Anhänger Jesus selbst „Nazarener“ nannten, damit sie sich als Jünger voneinander unterscheiden?

    Vor allem eine Stelle in der APG ist äußerst interessant, an der Paulus von ein paar Juden angeklagt wird: „.. Wir haben diesen Mann gefunden schädlich, und der Aufruhr erregt alle Juden auf dem ganzen Erdboden, und einen vornehmsten der Sekte der Nazarener/Nazoräer?, 6 der auch versucht hat, den Tempel zu entweihen.“ APG 24, 5-7
    Klingt, als wenn einige Nazoräer „Anschläge“ auf den Tempel verübt hätten? Wie Jesus? stellt sich da zwingend die Frage. Schließlich hat Er dort auch im Tempel „gewütet“ und die Opfertiere befreit oder grundsätzlich angekündigt, Er würde den Tempel niederreissen, bzw. es würde dort kein Stein auf dem andern bleiben. Aber immerhin war der Tempel das Zentrum von Jahwe? Doch plötzlich war Jesus selbst der Mittelpunkt? Der Weg, die Wahrheit und das Leben. Auch das Verhältnis von Jesus zu seiner Familie schien im NT wohl deshalb zumindest angespannt.
    Es ist für mich grundsätzlich fraglich, ob es den zweiten Begriff Nazarener überhaupt wirklich gegeben hat, bzw. sogar ob es die „Stadt“ Nazareth vor Konstantins Mutter Helena und ihrer Israel-Reise überhaupt gegeben hat, denn es kann allenfalls ein kleines Dorf gewesen sein. Schließlich gibt es dort in der Nähe sogar ein 2. Bethlehem in Galiläa. Zufall? Im Philippus-Evangelium gibt es noch eine Ungereimtheit, da sagt er, dass Nazara „Wahrheit“ heißt. Vielleicht hieß es vorher einfach, dass Jesus und seine Jünger aus der Wahrheit [von Gott] kamen? Und die Evangelisten verstanden das nicht und machten dann eine Stadt draus? Wie gesagt, nichts ist vielschichtiger als die Deutung des Begriffs „Nazoräer“, er ist aber für das Christentum von entscheidender Bedeutung!
    Wird seit Jahrhunderten gelehrt, was Gläubige über Christus geglaubt haben, bzw. glauben wollten, oder tatsächlich das, was Christus selbst von sich geglaubt, getan und gelehrt hat?
    Beste Grüße
    A. G.

  • Occam

    Lieber Aleksi Gabor,

    Den obigen Beitrag habe ich jetzt nochmal überarbeitet, auch um klarzustellen, dass ich wie der hellsichtige Jean Hardouin im 18. Jh. Epiphanius‘ Schrift für eine Fälschung aus der Zeit der Frührenaissance halte. Eusebius, Theodoret, Kyrill oder eben auch Epiphanius und so manche andere sind, wie er schrieb, „realiter Herren ein und derselben Büchersammlung; sie zitieren die gleichen Autoren, sie widerlegen die gleichen Geschichten. Und so verhält es sich mit anderen.“ (Hardouin, Prolegomena, S.114 meiner Ausgabe)

    Und es ist immer dieselbe Schwatzhaftigkeit solcher Autoren, möchte man hinzufügen. Augustinus, oder präziser, was unter dessen Namen verfasst wurde (Bekenntnisse, Gottesstaat), ist das beste Beispiel.

    Denn in 29, 6.1 des Panarion erklärt der Schreiber namens Epiphanius, der die Nazarener nur aus Eusebius‘ Kirchengeschichte und Hieronimus‘ Isaja-Kommentar zu kennen scheint, es habe sie schon vor Christus gegeben ( womit er, für den jüdische Bräuche anscheinend böhmische Dörfer sind,, mit großer Wahrscheinlichkeit des Nasiräat meint).

    Doch wenig später heißt es dann:
    Die Nazarener glaubten, dass es nur einen Gott gibt (Pan., 29,7.3), dass Jesus der Sohn Gottes ist (Pan., 29,7.3) und dass er der Messias ist. (Pan., 29,7.3, 7.5, 9.3) Sie lasen sowohl aus dem Alten als auch aus dem Neuen Testament (Pan., 29,7.2) und sie glaubten an die Auferstehung der Toten (Pan., 29,7.3). Denn Thema, das darf man ja nicht vergessen, ist schlißlich die Häresie der sog. Nazoräer, und da müssen sie sich schon als judenchristliche Sekte erweisen. Und das liegt für ihn auf der Hand, denn für Epiphanius schließen sich der Glaube an Jesus und die Einhaltung der Tora gegenseitig aus. Er verweist auf Galater 3, 10, 22, das Jerusalemer Konzil (ApG 15,20) und Galater 5,2-4 als Beweistexte dafür, warum die Beobachtung der Tora und die Beschneidung Gründe für eine Verurteilung sind,
    Denn darin besteht für den Verfasser des Panarion ihr Ketzertum, dass sie sich der Beschneidung rühmen, und Menschen wie sie sind immer noch „unter dem Fluch“, da sie das Gesetz nicht erfüllen können. „Denn nachdem Mose alle Gebote gegeben hatte, kam er an das Ende des Buches und ’schloss das Ganze in einen Fluch ein‘, indem er sagte: ‚Verflucht ist, wer nicht in allen Worten bleibt, die in diesem Buch geschrieben sind, um sie zu tun.'“ (Pan 29,8.1., bezogen auf Gal 3,10, 2)

    Eusebius, Hieronymus, Epiphanius, sie alle haben keine Geschichtswerke geschrieben. Und wer meint, sie historisch oder chronologiekritisch deuten zu können, befindet sich m.E. auf dem Holzweg.

    Herzliche Grüße,
    Occam

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