Rechtschreiblernen nach der Methode ‚Sommer-Stumpenhorst‘
„Der Teufel ist böse.“
Rechtschreiblernen nach der Methode ‚Sommer-Stumpenhorst‘
Während noch in den 70er Jahren die Richtlinien und Lehrpläne für Schulen von den Schulministerien in Zusammenarbeit mit ernst zu nehmenden Fachwissenschaftlern entwickelt wurden, beobachten wir heute eine Entwicklung, die weitgehend von privaten und wirtschaftlichen Interessen bestimmt wird: Nicht sachkundige Schulpolitik bestimmt, was und wie in den Schulen gelehrt wird, heute sind es die privatwirtschaftlichen Interessen von Lernmittelentwicklern und die boomende Lernmittelindustrie, die vorgeben, was in den Richtlinien und Lehrplänen zu stehen hat.
Nur wenige Eltern wissen heute noch, mit welchen Materialien Kinder in der Schule lernen – oder lernen sollen. In Zeiten selbstgesteuerten und des so bezeichneten individuellen Lernens passiert es immer häufiger, dass die Kinder Wortkärtchen, Arbeitsblätter und -zettel nur noch in Ausnahmefällen mit nach Hause bringen. Und selbst wenn, so bringt das ratlose Eltern oft auch nicht weiter.
Oft ohne großen Sachverstand werden haufenweise neue Unterrichtsmittel konstruiert und auf den Markt geworfen. Viele Grundschullehrer/innen, nehmen die hinter den Neuentwicklungen stehenden wirtschaftlichen Interessen kaum wahr und greifen gläubig und begierig nach allem, was auch nur als „modern“ angepriesen wird. Begriffe wie „neuer Unterricht“ und „neue Unterrichtsformen“ werden bei all dem ständig aufs Neue strapaziert und sollen den Markt weiter anheizen.
Aus einem Eltern-Blog:
„Hallo, musstet Ihr Euch schon mal mit Sommer-Stumpenhorst auseinandersetzen? Mein Großer (1. Klasse) tut sich mächtig schwer damit. Wenn ich mal ein Wort korrigiere, gibt es mächtig Geschrei. In der Schule wird immer gesagt, man soll nicht die richtige Schreibweise vorgeben, so lange die Laute stimmen. Ich denke aber, es wird schwer, die richtige Schreibweise zu lernen, wenn sich jahrelang die falsche eingeschlichen hat.“
Ebenso rührig wie geschäftstüchtig hat sich der Schulpsychologe Norbert Sommer-Stumpenhorst am Lehrmittel- und Methodenmarkt für die Grundschulen etabliert. Viele – und oft gerade die Grundschullehrer/innen, die sich besonders um ihren Bildungsauftrag bemühen – arbeiten „nach Sommer-Stumpenhorst“. Und auch viele Eltern lassen sich von den Versprechungen auf Sommer-Stumpenhorsts Internet-Seite www.rechtschreibwerkstatt.de blenden.
Rechtschreiben mit dem Modellwortschatz
Vor einigen Jahren erschien sein neues Lernmittel zum Erlernen der Rechtschreibung: Der Modellwortschatz. Für die einzelnen Lernbereiche gibt es Karteikärtchen, die etwa so aussehen:
Die Piktogramme auf den Karten stehen z.B. für Abschreiben, für Partnerdiktate oder Sammel- und Suchaufgaben.
Dieser Modellwortschatz ist in drei Bereiche mit jeweils 320 Wörtern unterteilt und „enthält zu allen rechtschriftlichen Regelungen, Besonderheiten und Ausnahmeschreibungen auf der Laut und Wortebene, die Kinder bis zur Klasse 6 lernen sollen, prototypische (beispielhafte) Wörter.“ Im eigenen Internet-Shop wird er samt Karteikasten im Rahmen seines Gesamtkonzeptes interessierten Eltern, Lehrern und Schulen angeboten (auch in ganzen Klassensätzen mit Mengenrabatt). Die Preisliste wird übrigens erst nach Anmeldung angezeigt.
Auch Räuber sind böse Leute!
Doch was der Autor hier als „Herzstück seiner Rechtschreibwerkstatt“ anpreist, entpuppt sich bei näherer Prüfung als sprachunterrichtliches Kuriositätenkabinett. Vielleicht soll die Stillarbeit ja die Erst- und Zweitklässler auf die beliebten Serienkrimis vorbereiten, da der „kindgemäße Übungswortschatz“ u. a. die Wortfamilien „rauben“ und „morden“ behandelt.
„rauben“ – „Die bösen Leute rauben die Bank aus.“
Da gibt es für die Kleinen auch richtig was zu lernen:
- „ausrauben“,
- „berauben“,
- „Bankräuber“,
- „Mundraub“;
- „Raubbau“,
- „Raubdruck“,
- „Raubkopie“,
- „Raubmord“,
- „Straßenraub“
In der Vorbereitung auf das wirkliche Leben darf der Mörder natürlich nicht fehlen:
- „Mörder“ – „Der Mörder ist böse.“
Hier finden sich Lernwörter wie:„Mord“, „ermorden“, „mörderisch“, „mordsmäßig, „Selbstmörder“, „Mördergrube“, „Raubmord“, „Mordskerl “ – was man eben so bis zum Ende der 2. Klasse wissen muss.
Der Modellwortschatz erklärt den Kindern sogar die Ursache allen Übels auf dieser Welt – mit einem Satz, der schon im vorletzten Jahrhundert zum Weltwissen katholischer Landkinder gehörte:
- „böse“ – „Der Teufel ist böse.“
Opa? Bart – Bauch – alt
Grundschul-Fibeln wird – oft zu Recht – vorgeworfen, sie hielten in neuer Zeit an den Bildern vergangener Zeiten fest. Eine wirklichkeitsnahe Rechtschreibwerkstatt würde (heutzutage leider) vielleicht Sätze behandeln wie:
- „Papa spielt am Computer.“
- „Mama hat ein geiles Handy.“
- „Opa kauft heute einen neuen SUV.“
Sommer-Stumpenhorst dagegen bedient wirklich jedes Klischee:
- „Opa hat einen Bart.“
- „Opa hat einen runden Bauch.“
- „Mein Opa ist alt.“
Und selbstverständlich fehlt auch nicht:
- „Oma ist alt.“
Fragt sich bloß, ob sie auch einen …
„Kinder entwickeln ihre Sprache an der Sprache der Erwachsenen. Sie dient ihnen als Modell. Diese Form des Lernens kann auch in der Schreibentwicklung genutzt werden“,
meint Sommer-Stumpenhorst. Aber was bietet sein Rechtschreibkurs? Überwiegend zusammenhanglose Einzelsätze und einfältige Satzbaumuster wie die folgenden:
- „Die Welt ist schön.“
- „Der Baum ist schön.“
- „Mein Hut ist grün.“
- „Der Fisch ist gut.“
- „Das Eis ist gut.“
- „Die Hose ist fein.“
Und dann wieder dürfen die Kleinen trainieren, wie man
- „Doppelleben“,
- „lebenslänglich“,
- „verlebt“ oder
- „Geschlechtsleben“ (Karte „leben“)
richtig schreibt.
Die aktuellen Modellwortschatz-Karten zeigen zwar noch ein paar Sprachen mehr, aber der altbackene Inhalt bleibt der gleiche: pfeifen – „Ich pfeife ein lustiges Lied.“
Opas Pfeifchen „zum Rauchen“ – aber Hallo! Wo bitte gibt es das denn heute noch? Den Pfeifenständer, in dem die Meerschaumpfeife (auf dem Rauchtischchen?) steht, wo der Pfeifenraucher den Pfeifentabak im Pfeifenkopf seiner Tabakspfeife mit dem Pfeifenstopfer stopft, nachdem er sie mit dem Pfeifenreiniger gründlich gesäubert hat? All das dürften vielleicht Klein-Jörg oder sein Schwesterchen Eva vor mindestens 30 Jahren mal gesehen haben. Aber heutige Kinder wie Jonah oder Martha finden solche Anachronismen weder bei TikTok noch bei Instagram. Und erst recht nicht zuhause, wo selbst die Zigaretten oft schon verpönt sind. Was sollen sie mit einem Wortschatz anfangen, mit dem sie absolut nichts verbinden?
Sprachverlernen leicht gemacht
Wer es nicht zuhause erfährt, lernt differenziertes Denken und vor allem korrekten Sprachgebrauch jedenfalls nicht bei „Graf Ortho“. Hier nur einige Beispiele aus der Modellwerkstatt:
- „Wir tanken unser Auto.“ (Man kann vielleicht Sprit tanken, ein Auto kann man aber bestenfalls betanken.)
- „Eine Aufgabe ist falsch.“ (Allenfalls die Lösung kann falsch sein.)
- „Diese Strafe ist zu streng.“ (Mag sein, dass die Strafe zu hart ist, aber streng ist höchstens der Richter.)
Sprachliche Verfremdungen
Auf die Übersetzung der Lernwörter in andere Sprachen ist Sommer-Stumpenhorst ganz besonders stolz:
„Diese Übersetzungen können für vielfältige Übungen verwendet werden: Für die Begegnung mit Sprachen, für ausländische Kinder und für die Untersuchung von Schriftsprache in anderen Ländern usw.“ (aus: Sommer-Stumpenhorst: Rechtschreiben lernen mit Modellwörtern. Berlin 2005)
Fremdsprachenkundigen stehen buchstäblich die Haare zu Berge!
Denn diese „Übersetzungen“ erwecken den Eindruck, als seien sie ohne jedes Sprachverständnis zusammen‚gegooglet‘. Vielleicht würden sich ja auch chinesische, jordanische oder griechische Kinder über den hier verzapften Unsinn amüsieren, doch beschränken wir uns nur auf hier bekannteren Sprachen:
- „Need“? „Nécessité“? Von wegen! Im Englisch müsste es „trouble“ heißen, im Französischen „détresse“.
- Auf einer anderen Karte „streicheln (statt: streichen!) die Maler das Haus“, weil als französische Übersetzung „passer la main“ angegeben wird. Und das bedeutet nun mal „die Hand streicheln“ – ähnlich wie übrigens das englische „ to stroke“ (streicheln). Richtig müsste es natürlich „peindre“ bzw. „paint“ heißen.
Und das sind beileibe keine Einzelfälle!
- „Mörder – Der Mörder ist böse.“ Jedes Schulkind kennt die gängige Übersetzung ins Englische: „killer“. Doch was steht hier? „murder“ (Mord)!
- „böse – Der Teufel ist böse.“ – Dann würde man im Englischen vielleicht „evil“, „diabolic“ oder „satanic“ wählen, aber bestimmt nicht, wie hier steht: „angry“ (wütend). Und auf Französisch ist er einfach nur „sauer“ (faché).
- „ganz – Ich schlafe ganz lange.“ Das als Übersetzung angebotene englische „entire“ meint ebenso wie das französische „entière“ vollständig, heil, ungeschmälert, gesamt, ungeteilt, voll, also ganz als Gegensatz z. B. zu ‚„halb“.
- „richten – Wir richten für Mama den Tisch.“ Einmal ganz davon abgesehen, dass wir normalerweise „den Tisch decken“ sagen, bedeutet die hier genannte Übersetzung „judge“ im Englischen urteilen, richten oder Richter, ähnlich wie das französische „juger“ (richten, aburteilen, beurteilen). Müßig zu erwähnen, dass „raddrizzare“ im Italienischen geradebiegen meint und das spanische „arreglar“ darüber hinaus noch die Bedeutung ausbügeln, deichseln oder reparieren haben kann.
Fazit
Wie in jedem umfangreicheren Konzept des Rechtschreiblernens wird man auch bei Sommer-Stumpenhorst hier und da Brauchbares finden. Insgesamt jedoch handelt es sich beim sog. Modellwortschatz um eine ziemlich dürftige Einheitskost für alle Kinder. Und wenn auch das Internet-Angebot verlockend präsentiert wird, sollten sich Eltern meiner Meinung nach das Geld für solche Übungsmaterialien sparen.
Horst Bartnitzky, der die pädagogische Diskussion über die Grundschule in Deutschland in den vergangenen drei Jahrzehnten mitgeprägt hat, hält dieses „in Mode gekommene Material“ rundweg für ein „didaktisches Fehlkonzept“, da es zu „Fehlformen des Lernens“ führe. Abschreibkompetenz ist nicht gleich Rechtschreibkompetenz. Viele schwache Schreiber können erfolgreich abschreiben. Nur nützt Ihnen diese Übungsform beim Erwerb von Rechtschreibregeln nicht viel.
Was Prof. Hans Brügelmann in einem Gutachten zu einem anderen Rechtschreibprogramm („IntraActPlus“) schreibt, gilt ohne Einschränkungen auch für das Konzept Sommer-Stumpenhorst:
„Als attraktiv scheint sich das Programm für viele Lehrer/innen zu erweisen, weil es durch seine Rezepthaftigkeit geringe Anforderungen an die fachliche Kompetenz der Lehrperson und an ihre tägliche Vorbereitung des Unterrichts stellt.“
Wer nach simplen Rezepten und Fast-food-Materialien sucht, wird bei Sommer-Stumpenhorst mit Sicherheit fündig. Wer aber die individuellen Stärken und Defizite der Kinder erkennen möchte, wer den individuellen Zugängen der Kinder und der Bedeutung ihrer Fehler nachzuspüren versucht, der sollte solche vereinfachenden (Schein-)Lösungen meiden. Denn nur eine differenzierte Lernbeobachtung kann helfen, den Unterricht an die Voraussetzungen und Bedürfnisse der einzelnen Kinder anzupassen.
Wenn also der hier vorgestellte „Modellwortschatz“ das „Herzstück der Rechtschreibwerkstatt“ des beamteten Unternehmers Norbert Sommer-Stumpenhorst ist, dann muss über die Qualität seiner „Rechtschreibwerkstatt“ wohl nicht mehr diskutiert werden!
(Informationen entstammen den Internetseiten Norbert Sommer-Stumpenhorsts: www.rechtschreibwerkstatt.de)