VA – Vereinfachung der Schreibschrift?
Gar nicht so einfach, wie es sich anhört!
Ohne Schreiben keine Schule! In der frühen Bundesrepublik wurde die Deutsche Normschrift zur Lateinischen Ausgangsschrift umgeschnitten – weil die leichter zu erlernen sei. Dann entstanden „Vereinfachte Ausgangsschrift“ (im Westen) und „Schulausgangsschrift“ (im Osten) – ebenfalls weil sie die Schreibfähigkeit angeblich verbesserten. In den Schulen wurde dadurch jedoch ein regelrechter Schriftensalat angerichtet Weil man Schriften im föderalen Staat nicht einfach verordnen kann, unterscheidet sich der Schreibunterricht seitdem manchmal nicht nur von Bundesland zu Bundesland, sondern sogar von Schule zu Schule. Wie ist es dazu gekommen?
„Warum bringen die Grundschulen den Kindern nicht mehr bei, ordentlich zu schreiben?“, höre ich immer wieder von Eltern. Manchmal kaum lesbare Hand-schriften, keine formklaren Buchstaben, unleserliche Krakel, die vor allem bei den Jungen oft ausufern. Lehrer weiterführender Schulen beklagen, ihre Schüler seien nicht mehr in der Lage seien, zügig Diktate mitzuschreiben oder in angemessener Zeit Aufsätze oder andere Texte in lesbare Form zu bringen. Defizite also, die sich sich verhängnisvoll auf die Schulkarriere auswirken können.
Die lateinische Ausgangsschrift
Bei der seit 1941 geltenden Deutschen Normalschrift wurden die Buchstaben z. T. gummiartig verbogen oder aber übertrieben eckig geschrieben. Infolge dessen wurden die Schülerschriften stark verformt. Das war der Hauptgrund für die Erneuerung der Schulschreibschrift: Am 4.11.1953 wurde per Erlass für alle Schulen der Bundesrepublik verbindlich die Lateinische Ausgangsschrift (LA) eingeführt. Deckstriche wurden verkürzt, die übertriebenen Kurvenformen abgeschwächt und die Proportionen gestrafft. Es war keine grundlegende Reform, eigentlich wurde nur äußere Form verändert. Eines war aber wirklich neu und steckte im Wort „Ausgangs-schrift“. Die Schrift war nicht mehr vorgegebene Normschrift, die nachgeahmt werden sollte, sondern – wie schon der Name sagt – eine Ausgangsschrift. Sie sollte nur ein Mittel sein, um erst einmal überhaupt das Schreiben zu erlernen. Anschließend sollte jeder Schüler auf dieser Basis seine eigene individuelle Handschrift entwickeln. Es war also von vornherein keine unveränderbare Normschrift.
Schönschreiben will gelernt sein
Manche Eltern, so auch ich, haben das Schreibenlernen noch ganz anders erfahren. Seit 1953 war die Lateinische Ausgangsschrift verpflichtend. Damit die Kinder sie erlernen konnten, gab es anfangs bis zur 4. Klasse sogar noch „Schönschreibstunden“, in denen zeilen- und seitenlang Buchstaben, Buch-stabenverbindungen, kleine Wörte und schließlich auch ganze Sätze geschrieben wurden.
Doch als Ende der sechziger Jahre in den alten Bundesländern die Grundschule als eigenständige Schulform gegründet, gab es neue Stundentafeln und erheblich umfangreichere Lehrpläne. Schönschreibstunden waren nun nicht mehr vorgesehen. Obwohl Generationen von Schülern mit dieser Schrift zu einer gut lesbaren und ästhetisch ansprechenden Handschrift gekommen waren, hieß es mit einem Mal, sie sei nicht mehr zeitgemäß.
Die vereinfachte Ausgangsschrift
Deshalb propagierte der Arbeitskreis Grundschule (der heutige Grundschulverband) für das Schreiben-lernen in den 70er und 80er Jahren eine Retortenschrift, die sog. Vereinfachte Ausgangsschrift (VA) und gab auch die ersten Schreibübungshefte für diese neue Schrift heraus. Die künstlich vereinfachten, fremd anmutenden Buchstabenformen der VA wurden den Schulkollegien durch rührige, von der Schulaufsicht empfohlene Fortbildungs-beauftragte vorgestellt. Die Absicht war, möglichst rasch zu einer Umstellung an allen Schulen zu gelangen. Und das gelang vorzüglich.
So gut wie alle einschlägigen Publikationen sprachen sich positiv, ja geradezu euphorisch für die Einführung der VA aus. Zweifler wurden für altmodisch erklärt. Genau das wird aktuell auch den Gegnern der neuen „Grundschrift“ vorgeworfen! Da die Befürworter mit wissenschaftlichen Untersuchungen daher kamen, durch die Vorzüge der VA belegt schienen, wagte kaum ein Lehrer, seine Zweifel öffentlich zu äußern. Bis heute haben viele Eltern und Lehrer eine Abneigung gegen die VA, die als unästhetisch eingestuft wird. An manchen Schulen ist man von der VA wieder abgekommen, hat sie verändert oder ist gleich bei der LA geblieben.
Nur die Schulbuchverlage freuten sich: In der Vereinfachten Ausgangsschrift enden alle Buchstaben so, dass der nächste Buchstabe formstabil angesetzt wird. Diese neue Schreibschrift konnte beim Satz direkt mit der Maschine getippt werden. Eine enorme Ersparnis!
Vorteile frei erfunden
Ausgedacht hatte sich diese Schrift der Göttinger Grundschullehrer und spätere Professor Heinrich Grünewald. Jahre später, aber immerhin schon 1996, deckte der Oldenburger Erziehungswissenschaftler Wilhelm Topsch auf, dass Grünewald keineswegs nur der Hauptinitiator und Erfinder der VA war. Er war es auch, der zugleich auch die Tauglichkeit seiner Erfindung überprüft, bewertet und der Öffentlichkeit als wissenschaftlichen Fortschritt angepriesen hatte. Topsch wies akribisch nach, dass Grünewald dabei nicht nur verfahrensmäßig den Boden der Wissenschaft verlassen, sondern sich auch wissentlich mit falschen Erfolgsmeldungen an die Öffentlichkeit gewandt hatte. Die vielfach dargestellten Vorteile der VA halten keiner Überprüfung stand, sie waren vielmehr in wesentlichen Teilen frei „erfunden“. Nur hatte bis dahin niemand die „empirischen Belege“ für die VA ernsthaft geprüft.
Durchgesetzt hat sich die VA jedoch erst mit Hilfe der einschlägigen und willig assistierenden Fachpresse. An ihrer Verbreitung hatten sowohl Verbands-funktionäre wie Schulpolitiker ihren Anteil. Eine ganze Generation von Lehrern und Schülern wurde an der Nase herumgeführt. Insgesamt sind unter schreib-ökonomischen Gesichtspunkten nirgendwo Erleichterungen zu erkennen. Die Vereinfachte Ausgangsschrift ist sogar in vieler Hinsicht eher schwerer zu erlernen, etwa beim kleinen „e“, wo die einfache Form des „Schleifen-e“ durch die deutlich kompliziertere Form des „Köpfchen-e“ ersetzt wurde.
Schon 1998 belegten Untersuchungen der Regensburger Sprachdidaktikerin Prof. Sigrun Richter, dass sowohl Mädchen als auch Jungen, die in der Lateinischen Ausgangsschrift schreiben, deutlich bessere Rechtschreibleistungen erzielen als solche Kinder, die die Vereinfachte Ausgangsschrift schreiben. Schriftexperten können präzise belegen sehr deutlich, wie mühevoll es sein kann, sich diese untaugliche Schreibschrift wieder abzutrainieren.
Die Schulpolitiker, und auch die meisten Grundschullehrer, blieben bis heute unbeeindruckt bei ihrer „Innovation“.
Weiterführende Literatur: Maria-Anna Schulze Brüning, Lupe auf die Vereinfachte Ausgangsschrift
Die Handschriftproben stammen von der sehr lesenswerten Website Maria-Anna Schulze Brünings Handschrift – Schreibschrift