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Girl in a Green Gown: Geschichte und Geheimnis des Arnolfini Portraits

Es gibt Gemälde, die weigern sich einfach, ruhig an der Wand zu bleiben. Die Figuren auf ihnen schlüpfen aus dem Rahmen, lösen sich aus dem stillen, starren Moment des Bildes und verleiten uns dazu, uns die Geschichte ihres Lebens vorzustellen.

Mann mit rotem Turban (1433), möglicherweise ein Selbstportrait Jan van Eycks

In Tracy Chevaliers Das Mädchen mit dem Perlenohrring entkommt eines von Vermeers Modellen aus ihrer Gefangenschaft im Gemälde und beginnt – im Film unwiderstehlich verkörpert von Scarlett Johansson – den schüchternen Maler zu necken und mit einer den Betrachter geradezu ansteckenden Sinnlichkeit völlig aus der Fassung zu bringen. Nach dem Mädchen mit der hängenden Träne aus flüssigem Licht, die an ihrem Ohrläppchen baumelt, ist nun eine junge Frau in einem grünen Kleid an der Reihe. Oder genauer: Gekleidet in ein Gewand mit einem so üppigen Stoffüberschuss gefertigt, dass es in Falten auf den Boden fällt und von der Hand der Trägerin aufgefangen werden muss.

Auch hier entfalten die Figuren, versenkt man sich nur ein wenig in die Einzelheiten, sehr schnell ein Eigenleben. Denn dieses Gemälde ist nicht nur wunderschön, es ist originell und es steckt voller geheimnisvoller Details, aber sie offenbaren sich dem Blick nur langsam. Das Paar befindet sich in einem Zimmer, nicht in einer mythischen Landschaft oder vor einem idealisierten Himmel. Beide sind kostbar gekleidet, doch eigentümlich stilisiert, ja die ganze Szenerie, zu der sich – erst auf den zweiten Blick erkennbar – auch noch zwei Beobachter gesellen, strahlt eine bemerkenswerte Fremdheit aus, die beinahe verstörend wirkt. Der Betrachter wird hineingezogen in das Bild, in dem etwas geschieht, es wird etwas markiert, und sei es nur die Beziehung zwischen zwei realen Menschen. Wir finden häusliche Details, die den Raum mit in seiner Zeit und dem Ort des Geschehens verknüpfen. Mode, Dekoration, Schuhwerk, ja sogar einen Schoßhund als Haustier. Es ist kein Wunder, dass das Bild die Phantasie beflügelt. So wie beispielsweise in diesem mit Youtube-Videos angereicherten Blogbeitrag von curiositas-mittelalter.blogspot.com, den ich unlängst fand:

Jan van Eyck, ein Meister der Details

Dieses Porträt ohne Namen, das erst viel später „Arnolfini“ genannt wurde, hat der flämische Maler Jan van Eyck im Jahr 1434 gemalt, und es ist wohl zurecht eines der berühmtesten Gemälde der Welt. Es fasziniert alle, die es sehen. Gelehrte und Laien rätseln gleichermaßen über die Bedeutung dieses unglaublich detailliert gearbeiteten Juwels mittelalterlicher Kunst, eines subtilen und schönen Doppelporträts eines wohlhabenden Kaufmanns und seiner Frau. Das rätselhafte Paar scheint uns über die Jahrhunderte hinweg eine Botschaft zu übermitteln, aber welche? Handelt es sich bei dem Gemälde um die Feier einer Ehe oder einer Schwangerschaft, um ein Denkmal für eine im Kindbett verstorbene Ehefrau, um eine sog. Kebshochzit, oder nur um eine modische Aussage oder ein Statussymbol?

Mit ihren forensischen Fähigkeiten machte sich die englische Kunsthistorikerin Carola Hicks daran, das Geheimnis zu entschlüsseln, und stieß dabei auf einige Überraschungen. Sie erzählt auch die faszinierende Geschichte des Gemäldes, wie es Brände, Schlachten und gefährliche Seereisen überstanden hat und welche Rolle es als Spiegel der Kultur und Geschichte seiner Zeit spielte – vom Juwel des Habsburgerreichs bis zur napoleonischen Kriegstrophäe. Einzigartig für ein so altes Meisterwerk ist die Tatsache, dass sich jeder einzelne Besitzer nachverfolgen lässt, von dem mysteriösen Herrn Arnolfini über verschiedene Monarchen bis hin zu einem hartgesottenen Helden des Waterloo-Krieges. Auch diese Besitzer haben eine kleine Rolle in dieser fesselnden Geschichte darüber, wie ein geniales Kunstwerk zu jeder neuen Generation neu sprechen kann.

Girl in a Green Gown (eBook, ePUB) von Carola Hicks - Portofrei bei bücher.deCarola Hicks: Girl in a Green Gown: The History and Mystery of the Arnolfini Portrait.
London: Vintage Books, 2012. Paperback, 272 Seiten (ISBN13: 9780701183370)

Carola Hicks fasst in ihrem äußerst detailreichen Buch die Geschichte zusammen, fügt ihr aber nichts hinzu. Das heißt,  es geht in diesem Buch weniger um Deutung, sondern darum, genau zu beschreiben, was man sieht und dies in der Zeit zu verorten. Ihr Ziel ist es, den Inhalt des Gemäldes zu erforschen, das Interieur, das Van Eyck so genau dargestellt hat, unter die Lupe zu nehmen und die Herkunft des Gemäldes während der vier Jahrhunderte zu verfolgen, in denen es zwischen den europäischen Königshäusern hin- und hergeschoben und als Kriegsbeute verschleppt wurde, bevor es 1842 in der National Gallery am Londoner am Trafalgar Square ankam.

Hicks enthüllt uns, dass es sich bei den Arnolfinis um Ehrenbürger von Essex gehandelt haben könnte, die die Trophäen ihres kommerziellen Erfolges frech zur Schau stellen. Ihrer Garderobe, das gesamte Inventar, das wir im Bild sehen, alles wird mit genauen Preisangaben versehen. Der Strohhut des Ehemanns ist z.B. ein modischer italienischer Import, teuer schwarz gefärbt. Sein Wappenrock ist mit Marderpelz gefüttert, fast so „prestigeträchtig“ – so Hicks – wie Zobel, den nur Prinzen tragen können. Seine Frau muss sich mit Eichhörnchenfell begnügen. Doch Hicks schätzt, dass ca. 600 Nagetiere gehäutet wurden, um sie zu schmücken. Seltsamerweise brennt bei Tageslicht eine Kerze auf dem Messingleuchter, während eine andere gerade gelöscht wurde und eine sichtbare Rauchwolke hinterlässt. Auch hier scheint es darum zu gehen, Prunk und Prächtigkeit geradezu zu zelebrieren, war doch im Mittelalter die Beleuchtung der größte Luxus, der ursprünglich den religiösen Gebäuden vorbehalten war. Selbst die Orangen auf dem Fenstersims sind Trophäen des Konsums, denn auch sie wurden aus Andalusien herbeigeschafft.

Leider starb die Autorin, bevor ihr Manuskript mit der Biographie dieses Gemäldes ganz fertig war. Ihr Mann Gary hat es nach ihrem Tod für die Veröffentlichung vorbereiten. Vielleicht, weil das Buch unvollendet blieb, lesen wir viel über die spätere Geschichte des Gemäldes, aber zu wenig über seine inneren Geheimnisse. Was denken die Arnolfinis, deren Hände so ritualisiert ineinander liegen, voneinander? Wer sind die beiden Gäste oder Zeugen, die im Spiegel an der Wand hinter ihnen zu sehen sind? Warum steht ein Bett, davor die Hausschuhe, im Empfangsraum?

Carola Hicks versucht in ihrer Studie mehrere Stränge zusammenzuführen: die Geschichte des Gemäldes zu Lebzeiten des Malers, die Geschichte der abgebildeten Personen und darüber hinaus die aufeinander folgenden Besitzer. Ihr entgeht nicht das kleinste Detail des Gemäldes. Sie schildert den Kontext, die Herkunft und die Bedeutung aller Gegenstände und Textilien, der Moden, der Haltung der Dargestellten, des kleinen Hundes. Und auch die Bedeutung des Gemäldes, sofern es eine solche gibt.

Die Geschichte des Besitzes und des Überlebens des Gemäldes ist atemberaubend. Heute ist es als »Arnolfini-Porträt« bekannt (manchmal auch als »Arnolfini-Hochzeit«, aber ohne triftigen Grund, was sich durchaus belegen lässt). Doch die Verbindung zu diesem Namen war jahrhundertelang verloren. Sicher ist nur, dass Jan van Eyck das Bild 1434 gemalt hat, denn er hat es fein verschnörkelt in den Zwischenraum zwischen den Blicken der beiden Personen geschrieben. Es wurde sogar darüber diskutiert, ob die Worte „fuit hic“, die eher bedeuten, dass Jan van Eyck „hier war“ als „dies gemacht hat“, bedeuten, dass das Porträt den Maler und seine Frau zeigt. Inzwischen ist jedoch ziemlich gut belegt, dass es sich bei dem männlichen Porträtierten um einen aus Lucca stammenden Brügger Kaufmann namens Arnolfini handelt – aber um welches Familienmitglied? Und welches war ungefähr im richtigen Alter und hatte eine Frau zum richtigen Zeitpunkt? Dies ist immer noch etwas unklar, aber der richtige Arnolfini scheint identifiziert worden zu sein, auch wenn die Identität der Frau, die seine Ehefrau sein könnte oder auch nicht (je nachdem, auf welches Ereignis dieses Porträt abzielt), nicht gesichert ist.

Kunst folgt auch der Macht, und so wurde Van Eycks Gemälde bald zum königlichen Spielball, der von seinen großen Besitzern nicht geschätzt wurde. Das Überleben eines winzigen, geheimnisvollen Gemäldes, das niemanden im Besonderen zeigt, von einem Maler, der das Schicksal aller Künstler erlitt, bevor er wiederentdeckt wurde und in Vergessenheit geriet, grenzt geradezu an ein Wunder – sind doch die meisten von van Eyck geschaffenen Werke im Laufe der Jahrhunderte verschwunden. Das Porträt gelangte Ende des 15. Jahrhunderts in die Hände eines spanischen Gesandten, Don Diego Guevara, und von ihm zu den beiden aufeinander folgenden Regenten der Niederlande, Marguerite von Österreich und Marie von Ungarn. Mit Marie gelangte das Porträt Mitte des 16. Jahrhunderts nach Spanien, wo es mehr als 200 Jahre lang in der königlichen Sammlung verblieb. Als Teil des Habsburger Erbes fiel es in die Hände von Philipp II. von Spanien, der allerdings Hieronymus Bosch dem Van Eyck vorzog. Sein Nachfahre Karl III. konnte überhaupt nichts mit dem Bild anfangen und brachte es – in einem Abort unter! Zumindest nimmt man an, dass es eine Zeit lang in einem der königlichen Paläste in einer »retrete« aufgehängt war – die Übersetzung ist unklar, aber man liegt wohl mit der Übersetzung „Toilette“ nicht so ganz falsch.

Carola Hicks stellt in ihrem Buch eine plausible, aber nicht belegte Theorie auf, wie es aus Spanien und dem geplünderten Gepäckzug des besiegten Königs Joseph Bonaparte in Vitoria in die Hände eines Dragoners der Armee Wellingtons gelangt sei, eines Helden des Peninsularen Krieges und von Waterloo. Der Prinzregent liebäugelte mit dem Kauf, verstaute es aber nachlässig auf einem Dachboden in Carlton House und änderte dann seine Meinung über den Kauf. Nach einigem Hin und Her gelang es der Nation schließlich, Generalmajor Hay dafür zu bezahlen, das Gemälde wurde in der National Gallery in London ausgestellt und ist seither zum Publikumsliebling geworden.

Adolf Hitler wollte es übrigens unbedingt haben: Die Nazis enteigneten germanische Kunst aus den Ländern, in die sie einmarschierten, und alles von Van Eyck, dessen man habhaft werde konnte, gehörte zum Hauptziel für die monumentale Galerie, die Hitler in seiner Heimatstadt Linz gründen wollte. Vorsichtshalber verbrachten die Arnolfinis daher den Krieg tief in einem Schiefersteinbruch in im Nationalpark Snowdonia im Norden von Wales. Ihre Rückkehr nach London im Jahr 1945 stärkte die Moral der Bevölkerung. Die „saubere, helle Farbe“ des Gemäldes, schrieb damals der Observer, linderte den „Staub, den Schutt und die Tristesse“ der Stadt. Kunst erwies sich ausnahmsweise einmal buchstäblich als lebensbejahend.

Dass Hicks‘ Buch eigentlich noch nicht veröffentlichungsreif war, spiegelt sich m. E. auch in der Gliederung. Kapitel über die verschiedenen Phasen der Besitzverhältnisse wechseln sich mit Kapiteln über den Inhalt und die Details des Bildes ab. Beide enthalten eine Fülle von Informationen, aber als Leser liegt mir eigentlich mehr an den Informationen über das Porträt als an denen über seine Besitzer.

Deshalb fand ich auch die Kapitel über die beiden Protagonisten des Bildes, den Mann und die Frau, ihre Kleidung, ihre Accessoires und ihre Haltung, die Möbel, den Raum, den Spiegel und die Figuren, die sich darin spiegeln, den Kronleuchter, den Hund – all diese Details, die erfreuen und faszinieren – viel fesselnder, zumal sie tief eintauchen in das Burgund des 15. Jahrhunderts. Die Farben der Textilien, die Pelze, mit denen die Kleidungsstücke gefüttert waren – all das wird von Hicks mit akribischer Sorgfalt beschrieben und in den Kontext gestellt; woher sie kamen, wie kostbar die Farbstoffe waren und was das alles über ihren Status aussagt.

Das Buch fasziniert durch seinen Detailreichtum. Und doch bleiben viele Fragen offen, zumal sich Hicks bewusst damit zurückhält, zu spekulieren und auf die viele Theorien und Mythen einzugehen, die sich um dieses Portrait ranken. Das mag ein Manko des Buches sein, aber es war wohl auch nicht so gewollt. Anregend aber ist es allemal, verlangt gerade dazu, noch einmal – gründlicher! – gelesen zu werden und weckt einfach die Neugierde, sich noch näher und umfassender mit dem Bild zu beschäftigen. Schade, dass es immer noch keine deutsche Übersetzung des Buches gibt.

Nachtrag: Deutlich spekulativer, aber nicht weniger detailversessen und eher romanhaft angelegt ist die Spurensuche des Franzosen Jean Philippe Postel: Der Fall Arnolfini, erschienen 2017 in deutscher Übersetzung in der Reihe Oktaven des Verlags Freies Geistesleben. Eine vergnügliche und geistreiche Lektüre!

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