„Gehen unter hohen Bäumen.“
Letzte Woche fand ich bei der Suche nach einem Buch einen kleinen Aphorismenband („Neue Apokryphen“) eines früheren Freundes, der ganz nach hinten gerutscht war und den ich schon völlig vergessen hatte. Der Hölderlin-Herausgeber Sattler hatte das kleine Buch von Johannes Ernst Seiffert vor Urzeiten im Verlag Roter Stern herausgegeben. Johannes, der vor einigen Jahren starb, wird mir immer als warmherziger und außergewöhnlicher Mensch in Erinnerung bleiben. Manches ist mit galligem Humor geschrieben, wie zum Beispiel die herrlich lakonisch gegen den Strich gebürstete Paraphrase des bekannten Marx-Zitats aus den Thesen über Feuerbach:
„Die Veränderer haben die Welt bisher nur verschieden verwüstet. Es kommt darauf an, sie zu verschonen.“
Bevor er eine Professur in Kassel annahm, hatte er lange Zeit in Japan gelebt und von dort aus über Martin Buber chassisdische Anekdoten promoviert. Er hatte immer auch so etwas Zen-haftes an sich – wenn er nicht gerade nach einem guten Rotwein selbstvergessen zur Gitarre gesungen hat. Typisch für ihn ist der letzte Spruch im Buch, über den man wunderbar meditieren kann:
„Gehen unter hohen Bäumen.“
Gehen unter hohen Bäumen. Lass dieses Bild ganz auf dich wirken, und wenn du dich hinein begibst, bemerkst du das Gefühl, wie sich die Luft um dich herum verändert, das Knacken der Zweige unter deinen Füßen, die Weichheit des laubbedeckten Waldbodens, die Anmut und Leichtigkeit deiner Bewegungen, die Gerüche des Waldes, die sonnendurchfluteten Kronen der mächtigen Bäume beim Blick nach oben, das zarte Spiel von Licht und Schatten zwischen den Ästen, der leichte Nebel in den Farnkräutern in der Nähe …