
Zur Biographie der hl. Edith Stein
Anmerkungen zu einigen gängigen Topoi
„Edith Stein wuchs in einer sehr religiösen jüdischen Familie in Breslau auf.“
Das finde ich so nicht richtig. Edith Stein wuchs in einer bürgerlichen Familie auf, die schon insofern etwas Besonderes war, als ihr Vater früh verstarb und der Mutter einen Holzhandel und elf Kinder hinterließ, von denen allerdings vier bereits vor der Geburt Ediths verstorben waren. Die Mutter arbeitete von früh bis spät für den Erfolg des Unternehmens, das mehrere Angestellte hatte, und schaffte es so, ihren Kindern ein von finanziellen Sorgen weitgehend freies Leben zu ermöglichen. Edith Steins Mutter verstand sich als konservative deutsche Patriotin, aber mit einer jüdischen Seele, ganz im Sinne eines ‚deutschen Staatsbürgers jüdischen Glaubens‘. Für sie war die jüdische Religion ein wichtiger Bezugspunkt in ihrem Leben und sie versuchte auch, dies ihren Kindern zu vermitteln. Die hohen jüdischen Festtage wurden im Familienkreis auf traditionelle Weise begangen. Um die Zeit des Pessachfestes wurde die Kaschrut eingehalten. Die Mutter suchte auch an den traditionellen Festen die Synagoge auf, verlangte dies aber nicht unbedingt von ihren Kindern. Es finden sich typische reformierte Elemente: die Mutter geht als Frau in die Synagoge, und die jüngste Tochter – Edith – nimmt in der Sederfeier des Pessachfestes die Rolle des jüngsten Sohnes ein, der nach jüdischer Liturgie nach dem Grund dieser Feier zu fragen hat.

Nicht nur Edith sondern auch ihre Geschwister, von der (entfernten) Verwandtschaft ganz zu schweigen, waren sich zwar ihrer jüdischen Identität immer bewusst, ohne deshalb am religiösen Leben allzu intensiv teilzunehmen.
Edith und ihre Schwester Rosa waren sogar diejenigen, die das – zumindest bis zur Pubertät – noch am ehesten taten. Doch löste sich der Zusammenhang mit dem Judentum von der religiösen Grundlage, selbst wenn die Geschwister mit Rücksicht auf die Mutter innerhalb des Hauses die Riten und Bräuche formell mitvollzogen. Edith Stein selbst scheint hauptsächlich von der häuslichen Liturgie berührt worden zu sein, die sie in ihren Erinnerungen ausführlich schildert. Der schulische jüdische Religionsunterricht hingegen hinterließ wohl keine Spuren: in ihren Erinnerungen verliert sie über die jüdische Liturgie nur sporadische, eher anekdotenhafte Bemerkungen. Während eines Aufenthaltes bei ihrer Schwester in Hamburg 1906 hat sich die 15jährige, wie sie später erzählt, „das Beten ganz bewußt und aus freiem Entschluß abgewöhnt“[1]. „Damit zieht sie einen Schlussstrich unter eine persönliche religiöse Praxis und dialogische Gottesbeziehung, die nun auch vom weggefallenen äußeren Rahmen herkömmlicher Liturgie nicht mehr stimuliert wird. Zutreffend wird man hier von einer fortan durchaus toleranten agnostischen Haltung Edith Steins sprechen, welche die Existenz Gottes oder eine Gottesidee als solche nicht abstreitet, welche die religiöse Einstellung anderer wie auch religiöse Traditionen respektiert, die aber dieses Göttliche für unerkennbar und eine praktischreligiöse Haltung für die eigene Person und das eigene Leben als bedeutungslos oder gar unmöglich erachtet. Darauf lassen ihre vereinzelten Bemerkungen zur Gottesidee in dieser Phase schließen, wie auch ihre anscheinend intensivere Beschäftigung mit dem – ethischreligiösen – Werk des (jüdischen) Philosophen Spinoza, seiner ‚amor dei intellectualis‘, ab 1911.“[2]
Alle Geschwister Ediths neigten mit dem Erwachsenwerden einem eher säkularen Judentum zu, ohne große religiöse Ambitionen. Die beiden älteren Brüder heirateten sogar, sehr zum Missfallen der Mutter, eine nichtjüdische Frau. Das bedeutete aber nicht, dass es daraufhin zum Bruch kam. Die Mutter fand zwar, dass die beiden Schwiegertöchter „keine von uns“ seien, ließ sie dies aber in keiner Weise spüren. Und die einzige Tochter (Frieda), die sich im Einvernehmen mit der Mutter dazu bereitfand, eine traditionell arrangierte Ehe einzugehen, stand nach sechs Monaten schwanger wieder vor der Haustür der Mutter, weil sich die Ehe mit einem Witwer mit zwei Kindern als Fiasko erwiesen hatte. Die Mutter nahm Frieda, die sich wenig später wieder scheiden ließ, ohne zu zögern wieder zu Hause auf, und sie war ihr im elterlichen Betrieb die größte Stütze.
„1938 wechselte sie das Kloster: weil sie aufgrund ihrer jüdischen Herkunft die anderen Schwestern nicht in Schwierigkeiten bringen wollte, ging sie nach Echt in den Niederlanden.“
Auch das stimmt m.E. nicht ganz. Denn Edith Stein blieb auch im Kölner (und später im Echter Karmel) jemand Besonderes. Nicht nur, dass sie den Bischof listig dazu hatte bewegen können, ihr für ihre philosophischen Studien, die sie auch während des Noviziats weiterhin betrieb, Bücher zu gestatten, die eigentlich auf dem kirchlichen Index standen; sie tauschte sich, wann immer es ihre Zeit erlaubte, im persönlichen Gespräch oder brieflich mit Freunden und Wissenschaftskollegen im In- und Ausland aus (übrigens bis unmittelbar zu ihrer Deportation 1942!), pflegte und erweiterte ihre Bekanntschaften und beriet sich insbesondere mit jüdischstämmigen Freunden und Verwandten, die von Verfolgung, wirtschaftlichem Abstieg und Absonderung bedroht waren oder sich bereits auf die Emigration vorbereiteten. Auf diese Weise gewann Edith Stein, die sich sowieso stets einen wachen politischen Verstand bewahrt hatte, einen nuancierten Einblick in die aktuelle Lage von jüdischen Deutschen in ihrer (nun nationalsozialistischen) Heimat. Für die Priorin und ihre Mitschwestern muss es irritierend gewesen sein, dass ausgerechnet die Novizin Edith Stein, die bei der Volksabstimmung über den Anschluss Österreichs am 10. April 1938 nicht stimmberechtigt war (Priorin zum Beamten, der die Wahlliste führte: „Sie ist nichtarisch.“), sie eindringlich beschworen hatte, bei der Wahl mit Nein zu stimmen da der „Führer“ ein Feind Gottes sei.
Und wenig später, am 21. April 1938, nahm sie – völlig unüblich – die Ablegung ihrer ewigen Gelübde zum Anlass, um in einer Brandrede ihren Mitschwestern eindringlich den Ernst der Lage zu schildern und sie zu Solidarität und einem klaren Bekenntnis aufzufordern. Ich bezweifle sehr, dass sie damit Erfolg hatte. Im persönlichen Gespräch hier und da vielleicht, aber nicht nach außen hin! Mit „brennender Sorge“, das hatte ja Papst Pius XI., in den Edith Stein Jahre zuvor vergeblich Ihre Hoffnungen gesetzt hatte[3], in seiner Enzyklika vom 14. März 1937 hinreichend klargemacht, wurde nicht etwa die Verfolgung der Juden in Deutschland betrachtet (diese wird mit keinem Wort erwähnt), sondern vielmehr „die Unkrautkeime des Misstrauens, des Unfriedens, des Hasses, der Verunglimpfung, der heimlichen und offenen, aus 1000 Quellen gespeisten und mit allen Mitteln arbeitenden grundsätzlichen Feindschaft gegen Christus und seine Kirche“. Dem Oberhaupt der katholischen Kirche kam es gar nicht in den Sinn, die Rassengesetze zu geißeln: „Niemand denkt daran, der Jugend Deutschlands Steine in den Weg zu legen, der sie zur Verwirklichung wahrer Volksgemeinschaft führen soll“, solange sie nicht versuche „die sittliche Ordnung vom Felsenboden des Glaubens abzuheben und auf dem wehenden Flug Sand menschlicher Normen aufzubauen“.[4] Da von Seiten der Amtskirche keinerlei Unterstützung zu erwarten war, erwies sich dann die Übersiedlung in den Karmel Echt in den Niederlanden als beste Lösung für alle Beteiligten. Edith Stein geriet, zumindest temporär, aus der Gefahrenzone und das Kloster bot keine mögliche Angriffsfläche mehr für die nationalsozialistischen Behörden.
„Doch auch dort waren die beiden Schwestern nicht sicher. Obschon Edith Stein sich dessen bewusst war, wollte sie nicht in ein sicheres Kloster in der neutralen Schweiz flüchten, denn ihre Schwester Rosa hätte nicht mitkommen können.“
Hier beginnt die besondere Tragik im Leben der Edith Stein, die sich ungeachtet mancher Äußerungen, die dies vermuten ließen, eigentlich nie als Märtyrerin empfunden oder darin ihr Lebensziel gesehen hatte. Ganz im Gegenteil! Ihr Vorbild war die biblische Königin Esther, die mit List den Haman (Regierungsbeamter des Perserkönigs Ahasveros [Xerxes]) besiegt und es erreicht hatte, dass der von Haman geplante „Genozid“ an den Juden vom König umgewandelt wurde in einen straffreien Massenmord, den statt dessen die Juden unter ihren Feinden anrichten durften. Esther riskierte viel – und gewann! Alljährlich wird dies beim Purim-Fest gefeiert, und das dabei verzehrte traditionelle Gebäck („Haman-Taschen“) dürften Edith Stein noch aus ihrer Kindheit bekannt gewesen sein. Zwar schrieb sie am 31.3.1938 an Schwester Agnes (Petra Brüning), die Oberin des Dorstener Ursulinen-Klosters: „Ich bin eine sehr arme und ohnmächtige kleine Esther; aber der König, der mich erwählt hat, ist unendlich groß und barmherzig. Das ist ein so großer Trost.“[5] Aber auch die „kleine Esther“ wollte (über-)leben, noch mehr: sie sah geradezu ihre Bestimmung darin! Edith Stein ließ sich zwar leiten von der Überzeugung, dass ihr eigenes Leben, das Schicksal ihrer Angehörigen und aller bedrohten Juden in Gottes Hand liege. Damit hörte es aber nicht auf, ihr im Rahmen ihrer Möglichkeiten ein herausforderndes Anliegen zu bleiben. Stellvertretend wollte sie für die Juden vor Gott leben und für sie beten und sich einsetzen in der Lebensform ihrer Klostergemeinschaft. Ganz deutlich wird dieses Selbstverständnis in Edith Steins szenischem Dialog ‚Nächtliche Zwiesprache‘ aus dem Jahre 1941[6], den sie ihrer Priorin in Echt widmet. Hier begegnet die „Mutter“ (die Priorin als Metapher für die Mutter Kirche) einer Fremden, die sie zunächst für die Gottesmutter Maria hält. Doch die Unbekannte verneint:
Und meine Seligkeit ist’s, ihr zu dienen. „Ich bin es nicht – doch kenn‘ ich sie gar wohl, Ich bin aus ihrem Volk, von ihrem Blut, Und einst wagt‘ ich mein Leben für dies Volk.“
Da erkennt die Mutter ihre Besucherin:
„Der Frauen eine bist du, die wir ‘Vorbild‘ nennen? Du setztest für dein Volk aufs Spiel das Leben? Und hattest damals wohl schon keine Waffe, Als die zum Flehen aufgehob’nen Hände? So bist du Esther wohl, die Königin? (…) Und heute hat ein and’rer Haman ihm In bitt’rem Haß den Untergang geschworen. Ist’s darum wohl, daß Esther wiederkehrt?
Esther:
Du sagst es. – Ja, ich ziehe durch die Welt, Den Heimatlosen Herberg‘ zu erflehen, Dem stets vertrieb’nen und zertret’nen Volk, Das doch nicht sterben kann.
Mutter:
(…) Ihr Volk, das deines ist: dein Israel, Ich nehm‘ es auf in meines Herzens Herberg‘. Verborgen betend und verborgen opfernd Hol‘ ich es heim an meines Heilands Herz.
Esther:
Du hast verstanden, und so kann ich scheiden. Ich bin gewiß, der Gast wird nicht vergessen, Der zu dir trat in mitternächt’ger Stunde.“ Quelle: Edith Stein: Geistliche Texte Bd. 2. ESGA Bd. 20
Sieht man einmal ganz ab von der Fülle (z.T. fragwürdiger) theologischer Implikationen, die dieser kleine ‚Szenische Dialog‘ an anderen Stellen noch bereit hält[7]; eines dürfte doch deutlich sein: Edith Stein fühlte sich berufen und war auch noch 1941/42 voller Sendungsbewusstsein. Ein früher Tod passte nicht zu diesem Lebensentwurf. So korrespondierte sie auch aus den Niederlanden weiterhin mit Freunden und Verwandten, diskutierte noch 1942 ausführlich Probleme der Husserlschen Phänomenologie mit einem Doktoranden, und schrieb in jeder freien Minute an Ihrem Buch über Johannes vom Kreuz, das unvollendet ihr letztes bleiben sollte.
„Am 7. August 1942 wurden die beiden Schwestern nach Auschwitz deportiert, bereits zwei Tage später starben sie in der Gaskammer des Vernichtungslagers.“
Auch der Todestag 9.8.1942 ist nirgendwo verbürgt, ebensowenig wie die Todesursache. Das Datum entstammt einer Liste der niederländischen Justizbehörden aus dem Jahre 1950. Am Abend des 8.8.1942 traf der Transport von 987 Juden aus dem niederländischen KZ Westerbork in Ausschwitz-Birkenau ein. 464 davon wurden als „arbeitsfähig“ selektiert, die übrigen 523 getötet[17]. Da sich ihre Spur damit verlor und man davon ausgehen musste, dass niemand von diesem Zug das Lager überlebt hat, wird allgemein angenommen, die niederländischen Behörden hätten deshalb für alle Häftlinge des Transports das Todesdatum auf den folgenden Tag, den 9.8.1942, festgelegt.
[1] zit. nach: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. ESGA, Bd. 1, S. 86 (alle Seitenangaben beziehen sich auf die frei verfügbare Internetausgabe: https://www.karmelitinnen-koeln.de/edith-stein-archiv-kk/gesamtausgabe)

